Tegel , den 6. Oktober 1833.

Ich sage Ihnen meinen herzlichsten Dank, liebe Charlotte, für Ihren lieben Brief, den ich bei meiner Zurückkunft hier vorfand, und der so viel Liebes und Gütiges über mich enthält. Ob Sie nichts von Ihrem Befinden erwähnen, so scheint mir doch die Stimmung zu beweisen, daß Sie wohl sind. Sie wissen, welchen lebhaften Anteil ich daran nehme. Sie genießen doch gewiß auch recht in Ihrem Garten die schönen Tage, mit denen das sich zum Ende neigende Jahr scheint alle schlimmen Tage, an denen der Sommer reich war, wieder in Vergessenheit bringen zu wollen. Es ist merkwürdig, wie wunderschön das Wetter ist, eben so ausgezeichnet schön war der Frühling. Ich dächte in zwanzig Jahren kein so blütenreiches Frühjahr hier erlebt zu haben. Die Pracht war über alle Beschreibung. Das schöne Wetter wird aber bei weitem nicht so dankbar von den Menschen erkannt, als man das bloß minder gute gleich übermäßig allgemein tadeln hört. Die Menschen scheinen zu meinen, daß, wenn ihnen auch der Himmel alle übrigen Glücksgaben vorenthielt, er ihnen doch diese, gleichsam die wohlfeilste von allen, gewähren müsse. Wieviel dem Himmel das schöne Wetter kostet, ist freilich schwer zu berechnen. Allein in der Wirkung auf das Gemüt gehört ein wahrhaft schöner Tag zu den allerkostbarsten Geschenken des Himmels. Wenn man im Menschen eine gewisse mittlere Seelenstimmung als die Regel annehmen kann, so bringt mich schlechtes Wetter niemals unter dieselbe, dies erlaubt meine gegen alle äußeren unangenehmen Eindrücke sehr gut verwahrte Natur nicht. Aber ein schöner Tag oder eine strahlend sternhelle Nacht hebt mich unaussprechlich darüber empor. Denn man kann, gerade indem man die Empfindung des Schönen schärft, die Reizbarkeit gegen das Unangenehme abstumpfen.

Was Sie über Herder und Goethe sagen und über die verschiedene Wirkung, welche die Schriften beider auf Sie haben, hat mich zu allerlei Betrachtung geführt, über die Empfindungen anderer sollte man nicht so scharf absprechen. Beschränken Sie das Gesagte auf sich und andere, deren Gemütsart Ihnen genau bekannt ist, so stimme ich Ihnen gänzlich bei. Was mir aber bei dieser Stelle Ihres Briefes besonders aufgefallen ist, ist, daß sie mir wieder recht klar bewiesen hat, daß es zwei ganz verschiedene Arten gibt, sich einem Buche zu nahen. Eine, mit einer bestimmten Absicht verbunden und ganz nahe auf den Lesenden selbst bezogen, und eine freiere, die mehr und näher auf den Verfasser und seine Werke geht. Jeder Mensch liest, nach Verschiedenheit der Stimmungen und der Momente, mehr auf die eine oder die andere Weise; denn rein und gänzlich geschieden sind beide natürlich nie. Die eine wendet man an, wenn man von einem Buche fordert, daß es erheben, erleuchten, trösten und belehren soll, die andere Methode ist einem Spaziergange in freier Natur zu vergleichen. Man sucht und verlangt nichts Bestimmtes, man wird durch das Werk angezogen, man will sehen, wie sich eine poetische Erfindung entfalte, man will dem Gange eines Räsonnements folgen. Belehrung, Trost, Unterhaltung findet sich nachher ebenso und in noch höherem Maße ein, aber man hat sie nicht gesucht, man ist nicht von einer beschränkten Stimmung aus zu dem Buche übergegangen, sondern das Buch hat frei und ungerufen die ihm entsprechende selbst herbeigeführt. Das Urteil ist aber auf diese Weise freier, und da es von augenblicklicher Stimmung unabhängiger bleibt, zuverlässiger. Ein Verfasser muß es vorziehen, so gelesen und geprüft zu werden. Herder kann übrigens jede Art der Beurteilung ruhig erwarten. Er ist eine der schönsten geistigen Erscheinungen, die unsere Zeit aufzuweisen hat. Seine kleinen lyrischen Gedichte sind voll tiefen Sinnes und in der Zartheit der Sprache und Anmut der Bilder die Lieblichkeit selbst. Besonders weiß er das Geistige unnachahmlich schön, bald mit einem wohlgewählten Bilde, bald mit einem sinnigen Worte in eine körperliche Hülle einzuschließen, und ebenso die sinnliche Gestalt geistig zu durchdringen. In diesem symbolischen Verknüpfen des Sinnlichen mit dem Geistigen gefiel er sich auch selbst am meisten, bisweilen, obgleich selten, treibt er es bis ins Spielende. Eine seiner großen Eigenschaften war es auch, fremde Eigentümlichkeiten mit bewunderungswürdiger Feinheit und Treue aufzufassen. Dies zeigt sich in seinen Volksliedern und in der Geschichte der Menschheit. Ich erinnere mich z. B. aus der letzten der meisterhaften Schilderung der Araber. Herder stand im Umfang des Geistes und des Dichtungsvermögens gewiß Goethe und Schiller nach, allein es war in ihm eine Verschmelzung des Geistes mit der Phantasie, durch die er hervorbrachte, was beiden nie gelungen sein würde. Diese Eigentümlichkeit führte ihn zu großen und lieblichen Ansichten über den Menschen, seine Schicksale und seine Bestimmung. Da er eine große Belesenheit besaß, so befruchtete er seine philosophischen Ansichten durch dieselbe und gewann dadurch den Reichtum von Tatsachen für seine allegorischen und historischen Ausführungen. Er gehört, wenn man ihn im ganzen betrachtet, zu den wundervollst organisierten Naturen. Er war Philosoph, Dichter und Gelehrter, aber in keiner einzigen dieser Richtungen wahrhaft groß. Dies lag auch nicht an zufälligen Ursachen, an Mangel gehöriger Übung. Hätte er einen dieser Zweige allein ausbilden wollen, so würde es ihm nicht gelungen sein. Seine Natur trieb ihn notwendig zu einer Verbindung von allen zugleich hin, und zwar zu wahrer Verschmelzung, wo jede dieser Richtungen, ohne ihre Eigentümlichkeit zu verlassen, doch in die der andern einging, und da doch dichtende Einbildungskraft seine vorherrschende Eigenschaft war, so trug das Ganze, indem es die innigsten Gefühle weckte, immer einen doppelt stark anziehenden Glanz an sich. Diese Eigentümlichkeit bringt es aber auch freilich mit sich, daß die Herderschen Räsonnements und Behauptungen nicht immer die eigentlich gediegene Überzeugung hervorbringen, ja daß man nicht einmal das recht sichere Gefühl hat, daß es seine eigene recht feste Überzeugung war, die er aussprach. Beredsamkeit und Phantasie leihen leicht allem eine willkürliche Gestalt. Von der Außenwelt entlehnte er nicht viel. Sein Aufenthalt in Italien hat ihn fast um nichts bereichert, da Goethe der seinige so reiche und schöne Früchte getragen hat. Herders Predigten waren unendlich anziehend. Man fand sie immer zu kurz und hätte ihnen die doppelte Länge gewünscht. Aber eigentlich erbaulich waren die, welche ich gehört habe, nicht, sie drangen wenig ins Herz.


Wenn er jetzt wüßte, daß ich so viel mit unleserlich kleinen Buchstaben über ihn schreibe, würde er sich gewiß wundern, und ich wundere mich über mich selbst. Ich tue es einzig, weil ich denke, daß es Ihnen Freude macht. Sagen Sie mir aber auch, wenn Sie mich nicht mehr lesen können. Denn für mich selbst schreibe ich nicht.

Mit der herzlichsten Teilnahme Ihr H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin