Tegel , den 6. Oktober 1830.

Ich habe, liebe Charlotte, Ihren Brief vom 28. v. M. erhalten und danke Ihnen sehr dafür. Es war hier seit acht bis zehn Tagen außerordentlich schönes Wetter, ich habe es recht genossen und bin die Nachmittage meistenteils ganz draußen gewesen. Ich fahre fort so wohl und gesund zu sein, daß, wenn ich auch auf alles einzelne an mir acht geben wollte, ich nicht wüßte, worüber ich zu klagen hätte. Es ist vielleicht unrecht, das so zu preisen und das Schicksal gleichsam herauszufordern und gewissermaßen das Glück zu berufen . Größtenteils ist das Aberglaube, aber doch nicht ganz. Wenn das Rühmen mit etwas Gutem mit einer vermessenen, inneren Zuversicht oder mit großer und ängstlicher Bangigkeit vor dem Umschlagen verbunden ist, so schlägt es wirklich leicht um. Man nenne es eine Strafe Gottes, oder man glaube, daß es ein für allemal in der sittlichen Weltordnung so eingerichtet sei, daß das sich überhebende wieder gedemütigt werden muß, so ist die Sache nicht abzuleugnen. Die Erfahrung lehrt sie, sie liegt im Glauben aller uns bekannten Zeitalter und Nationen, viele haben sie in denkwürdigen Sprichwörten, auch in Erzählungen, überlieferten und erdichteten, niedergelegt. Auf mich findet das indes keine Anwendung. Ich spreche gegen Sie mein Wohlsein und meine Gesundheit aus, weil ich weiß, daß es Sie freut und Ihnen eine Beruhigung ist und Trost, und weil das Aussprechen die natürliche Regung eines gegen das Schicksal dankbaren Gemüts, ja selbst ein Dank ist, ohne daß man etwas hinzufügt. Ich hege dabei keine Vermessenheit; ich habe, und gerade jetzt, wo viel Äußeres wankend werden kann, das klare Bewußtsein, daß alles, was jetzt die äußere Lage eines Menschen ruhig, sorgenlos, genußreich und selbst beneidenswert macht, sich, ohne daß man es ahnt, umwenden kann; viel leichter noch die Gesundheit in höheren Jahren. Ich habe aber darüber nicht die mindeste Ängstlichkeit. Ich genieße alles dankbar, was von außen kommt, aber ich hänge an nichts. Ich lebe durchaus nicht in Hoffnungen, und da ich nichts von der Zukunft erwarte, so kann sie mich auch nicht täuschen. Ich muß offenherzig gestehen, daß ich, wäre es auch unrecht, nicht an einer Hoffnung jenseits des Grabes hänge. Ich glaube an eine Fortdauer, ich halte ein Wiedersehen für möglich, wenn die gleich starke gegenseitige Empfindung zwei Wesen gleichsam zu einem macht. Aber meine Seele ist nicht gerade darauf gerichtet. Menschliche Vorstellungen möchte ich mir nicht davon machen, und andere sind hier unmöglich. Ich sehe auf den Tod mit absoluter Ruhe, aber weder mit Sehnsucht noch mit Begeisterung. In der Gegenwart suche ich mehr Tätigkeit als Genuß. Im Grunde ist aber dieser Ausdruck unrichtig. Der Genuß entsteht durch die Tätigkeit, beide sind also immer verbunden. Es gibt allerdings auch Genuß, der wie eine reine Himmelsgabe uns zuströmt. Den kann man aber nicht suchen, und es ist beklagenswert, wenn sich die Sehnsucht auf einen solchen heftet. Aber der große Genuß, das große Glück, das wahrhaft durch keine Macht entreißbare, liegt in der Vergangenheit und in der gewissen Betrachtung, daß das große Glück zwar ein großes, schätzenswürdiges Gut, aber daß doch die Bereicherung der Seele durch Freude und Schmerz, die Erhöhung aller edeln Gefühle der wahre und letzte Zweck ist, übrigens alles in der Welt wechselnd und seiner Natur nach vergänglich ist. Durch diese Ansicht versinkt das Leben in der Vergangenheit nicht in ein dumpfes Brüten über vergangene Freuden oder empfundene Leiden, sondern verschlingt sich in die innere Tätigkeit, welche das Gemüt in der Gegenwart beschäftigt. So ist es in mir, und da die Gefühle, auf welchen mein Leben beruht, jetzt alle in die Vergangenheit entrückt sind, auf eine zwar von Wehmut begleitete, aber ein so süßes und so sicheres, von Menschen und Schicksalen so unabhängiges Glück gebende Weise, daß nichts es zu entreißen, ja selbst nur zu schwächen vermag.

Ich bitte Sie, Ihren nächsten Brief am 26. d. M. zur Post zu geben; wenn Sie früher schreiben, ist mir Ihr Brief immer und an jedem Tage willkommen.


Leben Sie herzlich wohl. Mit aufrichtiger und unveränderter Teilnahme der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin