Tegel , den 6. Mai 1831.

Unmittelbar nach dem Abgang meines letzten Briefes an Sie, liebe Charlotte, empfing ich den Ihrigen und ersah daraus, daß ich die Ursache Ihres verzögerten Schreibens richtig erraten hatte. Bald darauf erhielt ich auch Ihren zweiten Brief.

Ich habe Sie längst befragen wollen, liebe Charlotte, ob Sie je Schillers Leben von Frau von Wolzogen gelesen haben. Wo nicht, so rate ich Ihnen, das Buch ja bald zu lesen. Ich glaube nicht, daß es ein zweites so schön geschriebenes, so geistvoll gedachtes und so tief und zart empfundenes Buch gibt. Ein Mann könnte garnicht so schreiben, wenn er auch sonst vorzüglich von Kopf und Gemüt wäre. Unter allem, was ich bisher von Frauen gelesen habe, weiß ich nichts damit zu vergleichen. Außerdem sind viele Briefe von Schiller in dem Werke, und unter diesen vortreffliche. Das Buch wird Ihnen Freude machen.


Was ist Poesie? – sagen Sie und setzen hinzu, ich denke, man muß sie empfinden. – Ich bin ganz Ihrer Meinung. Wer recht lebendig empfindet (denn empfunden muß und kann es eigentlich nur werden), daß etwas poetisch ist, bedarf nicht der Erklärung, und wer kein Gefühl dafür hat, dem kann alle Erklärung durch Worte nicht helfen. Insoweit es möglich ist, hat es gewiß Schiller getan, der mehr als irgend jemand die Gabe besaß, in Worte zu kleiden, was in seiner eigentümlichen Natur dem Ausdruck widerstrebt. Beispiele erklären es schon besser. Nehmen wir zwei gleichzeitige Dichter, die Sie gleich gut kennen, Gellert und Klopstock. Beide sind miteinander zu vergleichen, weil sie beide geistliche Stoffe behandelt haben, weil sie gewiß beide von gleich edler Frömmigkeit und gleich reiner Tugendliebe beseelt waren, und endlich auch, weil sie eine große und tiefe Wirkung auf die Gemüter und die Herzen ihres Zeitalters hervorgebracht haben. Aber gewiß sind Sie meiner Meinung, daß in Klopstock ein ungleich höherer Schwung ist, daß man bei seinen Worten mehr denkt, von ihnen mehr hingerissen wird. Gellerts Verse sind nur gereimte Prosa, Klopstock war durchaus eine poetische Natur. – Ich bitte Sie, Ihren nächsten Brief am 24. abzusenden. Leben Sie herzlich wohl. Mit der aufrichtigsten Teilnahme und Freundschaft der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin