Tegel , den 6. Dezember 1826.

Ich habe, liebe Charlotte, Ihren inhaltreichen Brief vom 19. v. M., den Sie am 21. geschlossen haben, bekommen und mit großem Interesse gelesen und danke Ihnen recht herzlich dafür.

Sie bemerken in Ihrem Briefe, daß vor dem Erscheinen Christi ein Umgang zwischen der Gottheit und einigen gleichsam bevorrechteten Personen stattgefunden, durch das Christentum aber jeder, der in seinen Schoß aufgenommen sei, ein näheres Verhältnis zu dem höchsten Wesen erhalten habe. Ich halte dies für ungemein richtig. Zwar möchte ich nicht sagen, was eigentlich von jener engeren und persönlichen Gemeinschaft der Erzväter mit Gott, wie sie das Alte Testament schildert, zu halten sei. Diese Erzählungen des ersten Teils der Schrift haben in jeder Rücksicht, welches auch ihr Ursprung sein möge, eine so ehrwürdige Heiligkeit, daß man dem Zweifel an der Wahrheit keinen Raum gibt, wohl aber ungewiß bleiben kann, was Eigentümlichkeit der Vorstellungs- und Darstellungsweise, bildlicher oder eigentlicher Ausdruck sei. Denn bei so alten Überlieferungen, und die sich doch auch wiederum vermutlich Jahrhunderte lang mündlich fortgepflanzt haben, ehe sie aufgezeichnet worden sind, läßt sich der wahre Sinn von der äußeren Einkleidung schwer und wenig unterscheiden. Das aber ist eine gewisse und tröstliche und im höchsten Grade heilsame Wahrheit, daß durch das Christentum alle Segnungen der Religion eine durchaus allgemeine Wohltätigkeit erlangt haben, daß alle innere und äußere Bevorrechtung aufgehört, und jeder ohne Unterschied Gott so nahe zu stehen glauben kann, als er sich ihm durch seine eigene Kraft und Demut im Geist und in der Wahrheit zu nähern vermag. Es ist überhaupt in allem, im Religiösen und Moralischen, der wahrhaft unterscheidende Charakter des Christentums, die Scheidewände, die vorher die Völker wie Gattungen verschiedener Geschöpfe trennten, hinweggeräumt, den Dünkel, als gäbe es eine von der Gottheit bevorrechtete Nation, genommen, und ein allgemeines Band der Nächstenpflicht und Nächstenliebe um alle Menschen geschlungen zu haben. Hier ist nun nicht mehr von bildlichen Darstellungen und nicht mehr von Wundern die Rede. Es herrscht hier die geistige Gemeinschaft, welche die einzige ist, deren der Mensch wahrhaft bedarf, und zugleich diejenige, der er immer durch Vertrauen und Wandel teilhaftig werden kann. Ich gestehe daher auch, daß ich nicht in die Idee eingehen kann, als wäre oder als könnte nur noch jetzt eine engere Gemeinschaft zwischen Gott und einzelnen sein, als die allgemeine, der schlichten Lehre des Christentums angemessene, in die jeder durch Reinheit und Frömmigkeit der Gesinnung tritt. Es wäre ein gefährlicher Stolz, sich einer solchen anderen und besonderen teilhaftig zu glauben, und das Menschengeschlecht bedarf dessen nicht. Frömmigkeit und Reinheit der Gesinnung und Pflichtmäßigkeit des Handelns, selbst schon Streben nach beiden, da das vollendete Erreichen keinem gelingt, sind alles, den Menschen, einzeln und in der Gesamtheit, Notwendige, und alles dem höchsten Wesen, wie wir es uns denken müssen, Wohlgefällige. – Schreiben Sie mir, liebe Charlotte, den 26. Dezember nach Hadmarsleben bei Halberstadt. Hadmarsleben ist ein Gut meiner Frau, wo ich mich einige Tage aufhalten werde. Mit der herzlichsten und unveränderlichsten Teilnahme der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin