Tegel , den 4. Januar 1831.

Da ich jetzt wenige Briefe selbst schreibe, so fiel es mir auf, als ich die Jahreszahl hinkritzelte, denn wirklich nur Kritzeln kann ich mein jetziges Schreiben nennen, daß ich dies in diesem Jahre zum ersten Male tue. Nehmen Sie also auch, liebe Charlotte, meinen herzlichen Glückwunsch an. Möge nichts Äußeres, Widerwärtiges Ihnen zustoßen, und mögen Sie immer die nötige Stärke haben, sich die innere Ruhe zu erhalten, wenn sie, wie man bei menschlichen Schicksalen nie eine sichere Bürgschaft hat, einmal bedroht würde. Nach der Art, wie die Menschen, vorzüglich die höheren Stände, leben, hat, genau genommen, der Jahreswechsel seine wahre Bedeutung verloren. Im Grunde fängt mit jedem Tag ein neues Jahr an. Nur die Jahreszeiten machen einen wirklichen Abschnitt. Diese aber haben bei uns kaum auf mehr als unsere Annehmlichkeit und Bequemlichkeit Einfluß. Mir ist aber demohngeachtet ein neues Jahr immer eine Epoche, die mich aufs neue in mir selbst sammelt. Ich übergehe, was ich getan habe, etwa noch tun möchte, ich gehe mit meinen Empfindungen zu Rate, mißbillige oder billige, befestige mich in alten, mache neue Vorsätze und bringe so gewöhnlich die elften Tage des Jahres müßig und arbeitslos hin. Ich lächle dann selbst, daß ich die guten Vorsätze mit Müßiggang verbringe, aber es ist nicht sowohl Müßiggang als Muße, und diese ist bisweilen heilsamer als Arbeit. Worauf aber diese periodischen Betrachtungen immer und gleichmäßig zurückkommen, ist die Freude, daß ein Jahr mehr sich an das Leben angeschlossen hat. Es ist dies keine Sehnsucht nach dem Tode, diese habe ich schon darum nicht, weil ja Leben und Tod, unabänderlich miteinander zusammenhängend, nur Entwickelungen desselben Daseins sind, und es also unüberlegt und kindisch sein würde, in demjenigen, was moralisch und physisch seinen Zeitpunkt der Reife haben muß, durch beschränkte Wünsche etwas ändern und verrücken zu wollen. Es ist auch nicht, ja noch viel weniger Überdruß am Leben. Ich habe dieselbe Empfindung in den genußreichsten Zeiten gehabt, und jetzt, da ich gar keiner äußeren Freude mehr empfänglich bin, wenigstens keine suche, aber still in mir und der Erinnerung lebe, kann ich noch weniger dem Leben einen Vorwurf zu machen haben. Aber der Verlauf der Zeit hat in sich für mich etwas Erfreuliches. Die Zeit verläuft doch nicht leer, sie bringt und nimmt und läßt zurück. Man wird durch sie immer reicher, nicht gerade an Genuß, aber an etwas Höherem. Ich meine damit nicht gerade die bloß trockene Erfahrung, nein, es ist eine Erhöhung der Klarheit und der Fülle des Selbstgefühls, man ist mehr das, was man ist, und ist sich klarer bewußt, wie man es ist und wurde. Und das ist doch der Mittelpunkt für des Menschen jetziges und künftiges Dasein, also das Höchste und Wichtigste für ihn. Das wird Ihnen, liebe Charlotte, mehr und besser zeigen, wie ich es meine, wenn ich das Alter der Jugend vorziehe. Mein eigentlicher Wunsch wäre aber, daß ich allein alt würde und alles um mich her jung bliebe. Damit würden dann auch die anderen zufrieden sein und gegen diese Selbstsucht keine Einwendung machen. Ganz im Ernst zu sprechen, obgleich auch das mein Ernst ist, ich meine nur in dem Ernst zu sprechen, den auch andere dafür nehmen würden – so bin ich weit entfernt zu verkennen, daß die Jugend im gewissen und im wahren Sinne eigentlich nicht bloß schöner und anmutiger, sondern auch in sich mehr und etwas Höheres ist als das Alter. Eben weil wenig einzelnes entwickelt ist, wirkt das Ganze mehr als solches; auch entwickelt das Leben nicht immer alle Anlagen, oft nur wenige, da ist dann die Jugend wirklich mehr. Auch liegt da in beiden Geschlechtern ein großer Unterschied. Dem Manne wird es viel leichter, den Schein und selbst die Wirklichkeit zu gewinnen, als sei er im Alter mehr und viel mehr geworden. Man schätzt in ihm viel mehr die Eigenschaften, die wirklich dem Alter mehr angehören, und erläßt ihm die Frische und den Reiz der jüngeren Jahre. Er kann immer Mann bleiben und selbst mehr werden, wenn er auch die körperliche Kraft sehr einbüßt. Bei Frauen ist das nicht ganz der Fall, und die Strenge der Willensherrschaft, die Höhe der freiwilligen Selbstverleugnung, durch die das weibliche Alter sich eine so jugendliche Kraft erhalten kann, haben nur wenige den Mut sich anzueignen. Allein auch in Frauen bewahrt das Alter vieles, was man in ihrer Jugend vergebens suchen würde, und was jeder Mann von Sinn und Gefühl vorzugsweise schätzen wird.

Über Ihre Beschäftigung mit Palästina freue ich mich sehr. Es ist Ihnen gewiß wohltätig, nicht ewig mit derselben Arbeit beschäftigt zu sein und nicht, wenn Sie dieselbe verlassen, sich wieder bloß Selbstbetrachtungen zu überlassen, sondern sich mit einem äußeren, den Geist anziehenden Gegenstand zu beschäftigen. Man kehrt durch einen solchen dennoch mittelbar in sich zurück.


In dem, was Sie über den Unterschied zwischen der neueren Geschichte und dem Altertum sagen, stimme ich Ihnen vollkommen bei. Man befindet sich auf einem ganz anderen Boden im Altertum. Es erging zwar den Menschen in jenen fernen Jahrhunderten auch wie uns jetzt. Aber die Verhältnisse waren natürlicher, einfacher, und wurden, was die Hauptsache ist, frischer aufgenommen, ergriffen, behandelt und umgestaltet. Auch ist die Darstellung würdiger, hinreißender und vor allem poetischer, die Poesie war damals noch wahre Natur, nicht eine Kunst, sie war noch nicht geschieden von der Prosa. Dies poetische Feuer, diese Klarheit anschaulicher Schilderung verbreitet sich nun für uns über das ganze Altertum, das wir nur durch diesen Spiegel kennen. Denn allerdings müssen wir uns sagen, daß wir wohl manches anders und schöner sehen, als es war. Ich will damit nicht geradezu sagen, daß die Art, wie die Dinge erzählt werden, unrichtig sei. Das nicht. Aber das Kolorit ist ein anderes. Wir sehen die Menschen und ihre Taten in anderen Farben. Auch fehlen uns eine Menge kleiner Details, wir sehen nicht alle, oft nur die hervorstechenden, wenn auch nicht mit Fleiß ausgewählten Züge. So wird alles überraschender und kolossaler.

Ich vermute, daß Sie bei dem schönen, gelinden und oft sonnigen Wetter auch täglich Ihren Garten besuchen. Ich lasse keinen Tag ohne Spaziergang vorübergehen. Die Sonne aber entgeht mir bisweilen, da ich mich in meinen Spaziergängen nicht nach ihr richte. Ich gehe immer Sommers und Winters am Nachmittag, und die Sonne versteckt sich hier in diesen Tagen um Mittag in Nebel.

Meine Gesundheit, denn ich sehe, daß ich noch nicht von ihr gesprochen, ist sehr gut. Ich habe bis jetzt in diesem Winter nicht einmal einen Schnupfen gehabt. Ich könnte also nur über Altersschwächen klagen; diese sind aber natürlich, und ich ertrage sie, ohne mich über sie zu wundern.

Ich bitte Sie, liebe Charlotte, Ihren nächsten Brief am 25. d. M. zur Post zu geben. Leben Sie nun recht wohl und rechnen Sie immer auf meine unveränderliche Teilnahme. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin