Tegel , den 3. September 1832. + Im November.

Ich bin am 26. August gesund und wohl hierher zurückgekehrt, liebe Charlotte, und habe gleich am folgenden Tage meine Beschäftigungen wieder vorgenommen. Von dem Bade sehe ich der Fortdauer der guten Wirkung, die ich schon spüre, entgegen. Das Wetter war vom August an in Norderney sehr schön, ohne Regen und Sturm, und doch nie zu warm, da es nie an kühlender Seeluft fehlt. Sonnenschein war nicht immer; es ist allen Inseln, besonders den kleineren, eigen, auch bei sehr milder Luft wenig eigentlich sonnige Tage zu haben. In Irland zum Beispiel zählt man deren unglaublich wenige. Ich habe mich aber bei meinem diesjährigen Aufenthalte im Seebad vollkommen überzeugt, daß, wenn man, wie doch natürlich ist, bloß auf seine Gesundheit Rücksicht nimmt und nicht weichlicherweise die Unannehmlichkeit scheut, man sich schlechtes und kein gutes Wetter wünschen muß. Bei ruhig gutem Wetter ist die See eben nichts anderes als eine große Badewanne. Der Sturm und die Wellen geben ihr erst Seele und Leben. Wie das Meer in seiner erhabenen Einförmigkeit immer die mannigfaltigsten Bilder vor die Seele führt und die verschiedenartigsten Gedanken erweckt, so ist mir erst jetzt bei den anhaltenden heftigen Stürmen recht sichtbar geworden, welche schmeichelnde Freundlichkeit das Meer gerade in seiner größten Furchtbarkeit hat. Die Welle, die, was sie ergreift, verschlingt, kommt wie spielend an, und selbst den tiefsten Abgrund bedeckt lieblicher Schaum. Man hat darum oft das Meer treulos und tückisch genannt, es liegt aber in diesem Zuge nur der Charakter einer großen Naturkraft, die sich, um nach unserer Empfindung zu reden, ihrer Stärke erfreut und sich um Glück und Unglück nichts kümmert, sondern den ewigen Gesetzen folgt, welchen sie durch eine höhere Macht unterworfen ist. H.

Im November.

Was sagen Sie zu dem außerordentlich schönen Herbst? Ich dächte, ich hätte nie einen ähnlichen erlebt. Noch jetzt scheint er mehr ein Ausgehen aus dem Sommer als ein Eingang in den Winter. Ich gehe noch immer eine Stunde vor Sonnenuntergang spazieren. Da ist es, selbst bei stürmischen Tagen, meist ruhig und bei regnerischen heiter. Sie haben gewiß auch oft gesehen, wie die scheidende Sonne sich dann durch ihre eigenen Strahlen einen lichten Streifen bildet, in den sie sich dann hinabsenkt. Ist dann recht dunkles Gewölk über ihr, so regnet es meist unmittelbar nach dem Untergange, bisweilen auch noch während des Untergangs. Es ist mir die liebste Zeit des Tages. – Sie schreiben mir, daß die Centifolien in Kassel blühen. Auch hier habe ich es zu meiner großen Verwunderung gesehen. In mittäglichen Ländern ist dies wiederholte Blühen ganz gewöhnlich. Man sieht daran, daß das vegetierende Leben beständig die Neigung hat, Blüten hervorzubringen, aber nur durch die Abwesenheit begünstigender Umstände daran verhindert wird. So traurig aber auch der Winter und seine lange Dauer sind, so entschädigt doch der Frühling dafür, nicht bloß sein Erscheinen und der Genuß desselben, sondern ganz vorzüglich das Erwarten desselben. Diese Sehnsucht ist eine der einfachsten und natürlichsten von allen und eine der reinsten Quellen, woraus jede andere Sehnsucht fließt, die so vieles und großes im Gemüte schafft und aus dessen innersten Tiefen hervorruft. Es ist dies gewiß eine der Ursachen, daß die nördlicheren Nationen doch eine tiefer ergreifende Poesie haben als die südlicheren, wenn diese auch klangvollere Sprachen besitzen. Es liegt unendlich viel in dem Einfluß, den die Natur um uns her auf uns ausübt, und es kommt da nicht darauf an, daß sie gerade Genuß gibt, sondern weit mehr darauf, daß sie Empfindungen weckt und die Kräfte in Tätigkeit bringt. Leben Sie wohl. Ihr H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin