Tegel , den 29. Mai 1830.
Ich habe, liebe Charlotte, Ihren Brief vom 16. d. M. vor einigen Tagen empfangen und so wie Sie es vorausgesehen haben, doppelte Freude daran gehabt, weil er in einem so ruhigen und heiteren Tone geschrieben ist. Ich wünsche nichts mehr, als daß Sie in demselben und der ihm entsprechenden Stimmung bleiben mögen, und Sie können es gewiß, wenn Sie sich nicht selbst trübe und irrige Vorstellungen machen, sondern vielmehr der Ruhe nachstreben, welche das Gemüt unabhängig von äußeren Ereignissen macht. Ohne diese nur durch innere Bearbeitung seiner selbst zu erlangende Ruhe bleibt man immer ein Spiel des Schicksals und verliert und gewinnt sein inneres Gleichgewicht, wie die Lage um einen her nur freudvoller oder leidvoller ist. Das gänzliche Unterlassen alles Spazierengehens ist und bleibt doch eine Entbehrung eines großen Vergnügens, wenn sich auch der Körper daran gewöhnt; ich habe das selbst an mir erfahren. Der Mangel der Bewegung hat mir nie geschadet, aber entbehren tut man viel. Man genießt die Natur auf keine andere Weise so schön als bei dem langsamen, zwecklosen Gehen. Denn das gehört namentlich zum Begriff selbst des Spazierengehens, daß man keinen ernsthaften Zweck damit verbindet. Seele und Körper müssen in vollkommener und ungehemmter Freiheit bleiben, man muß kaum einen Grund haben, auf eine oder die andere Seite zu gehen. Alsdann befördert die Bewegung die Idee, und man mag etwas Wichtiges denken oder sich bloß in Träumen und Phantasien gehen lassen, so gewinnt es durch die Bewegung des Gehens besseren Fortgang, und man fühlt sich leichter und heiterer gestimmt. Noch vor kurzem ist es mir geschehen, daß mir durch einen Spaziergang gelang, was sich sehr lange nicht hatte gestalten wollen. Ich hatte oft vergebens an etwas gearbeitet, und plötzlich beim Herumgehen draußen kam es mir ganz von selbst, daß ich beim Nachhausekommen es nur aufzuschreiben brauchte. Ich gehe aber niemals des Morgens aus. Daran tue ich vielleicht Unrecht, aber es hängt bei mir mit so vielen kleinen Gewohnheiten zusammen, daß ich darüber nicht hinauskommen kann. Ich genieße daher nur den Anblick des Grün aus den Fenstern, wo dann die Lichter der Frühsonne im Laube einen wundervoll herrlichen Wechsel des Hellen und Dunkeln gewähren.
Ich habe kürzlich Goethes zweimalige Reise nach Italien oder vielmehr, da es keine eigentliche Reisebeschreibung ist, seine Briefe von daher gelesen. Sie schrieben mir in derselben Zeit von der Jacobischen. Ich habe diese Reise nie gelesen, wohl aber den Reisenden gekannt und sein Buch loben hören. Er studierte mit mir zugleich in Göttingen und ging, wenn ich nicht irre, auch mit Ihrem Bruder um. Er war ein guter Mensch und sehr fleißig, doch vermied ich seinen Umgang, da er für meine Neigung in zu viele Studentengesellschaften verwickelt war. Was Sie mir aus seiner Reise über die Pracht der Kirchen und des Gottesdienstes sagen, ist sehr wahr. Es ist, wie Sie bemerken, und wie es auch mir erscheint, eine lobenswürdige Sitte, daß man jedem Gelegenheit gibt, in jedem Moment, wo er Stimmung dazu hat und fühlt, an einen Ort gehen zu können, wo er Stille und Einsamkeit oder zu seiner Stimmung passende Verrichtungen findet, einen Ort, der ihm schon an und für sich, sobald er ihn betritt, Ehrfurcht und dazu eine gewisse Linderung einflößt. Unsere evangelischen Kirchen werden viel zu sehr als Orte, die zum Predigen bestimmt sind, angesehen, und auf die religiöse Erhebung des Gemüts in Gebet und Nachdenken wird zu wenig gedacht. Die Goetheschen Briefe aus Italien lehren nicht gerade Italien und Rom kennen. Sie sind ganz und garnicht beschreibend. Man muß mit den Gegenständen durch eigene Ansicht oder durch andere Reisen bekannt und bereits vertraut sein, um nur die Bemerkungen darüber ganz zu verstehen. Aber sie malen sehr hübsch und interessant Goethe selbst und zeigen, was Rom und Italien sind, durch den Eindruck, den sie auf Goethe gemacht haben. Insofern gehören sie zu den merkwürdigsten Schilderungen. Dann erkennt man auch daraus, welche unglaubliche Sehnsucht Goethe Jahre hindurch hatte, Italien und vor allem Rom zu sehen.
Ich reise morgen früh ab und gehe zunächst nach Breslau. Leben Sie herzlich wohl und seien Sie meiner unveränderlichen Teilnahme gewiß. Von Herzen Ihr H.
Ich habe kürzlich Goethes zweimalige Reise nach Italien oder vielmehr, da es keine eigentliche Reisebeschreibung ist, seine Briefe von daher gelesen. Sie schrieben mir in derselben Zeit von der Jacobischen. Ich habe diese Reise nie gelesen, wohl aber den Reisenden gekannt und sein Buch loben hören. Er studierte mit mir zugleich in Göttingen und ging, wenn ich nicht irre, auch mit Ihrem Bruder um. Er war ein guter Mensch und sehr fleißig, doch vermied ich seinen Umgang, da er für meine Neigung in zu viele Studentengesellschaften verwickelt war. Was Sie mir aus seiner Reise über die Pracht der Kirchen und des Gottesdienstes sagen, ist sehr wahr. Es ist, wie Sie bemerken, und wie es auch mir erscheint, eine lobenswürdige Sitte, daß man jedem Gelegenheit gibt, in jedem Moment, wo er Stimmung dazu hat und fühlt, an einen Ort gehen zu können, wo er Stille und Einsamkeit oder zu seiner Stimmung passende Verrichtungen findet, einen Ort, der ihm schon an und für sich, sobald er ihn betritt, Ehrfurcht und dazu eine gewisse Linderung einflößt. Unsere evangelischen Kirchen werden viel zu sehr als Orte, die zum Predigen bestimmt sind, angesehen, und auf die religiöse Erhebung des Gemüts in Gebet und Nachdenken wird zu wenig gedacht. Die Goetheschen Briefe aus Italien lehren nicht gerade Italien und Rom kennen. Sie sind ganz und garnicht beschreibend. Man muß mit den Gegenständen durch eigene Ansicht oder durch andere Reisen bekannt und bereits vertraut sein, um nur die Bemerkungen darüber ganz zu verstehen. Aber sie malen sehr hübsch und interessant Goethe selbst und zeigen, was Rom und Italien sind, durch den Eindruck, den sie auf Goethe gemacht haben. Insofern gehören sie zu den merkwürdigsten Schilderungen. Dann erkennt man auch daraus, welche unglaubliche Sehnsucht Goethe Jahre hindurch hatte, Italien und vor allem Rom zu sehen.
Ich reise morgen früh ab und gehe zunächst nach Breslau. Leben Sie herzlich wohl und seien Sie meiner unveränderlichen Teilnahme gewiß. Von Herzen Ihr H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin