Tegel , den 26. Mai 1823.

U nsere Briefe haben sich gekreuzt, liebe Charlotte, ich hatte Ihnen geschrieben, ohne einen Brief von Ihnen abzuwarten, und Sie haben den Ihrigen früher als gewöhnlich abgehen lassen.

Die Stelle in Ihrem Briefe über das Pfingstfest hat mich sehr gefreut und spricht ganz Ihr tiefstes Gemütsbedürfen aus. Auch mir ist es eigentlich das liebste unter den großen Festen. Seine heilige Bedeutung, das Herabsteigen göttlicher Kraft auf menschliche Wesen, hat etwas zugleich Tröstendes und Erhebendes, und das doch nicht über der Fassungskraft unsers Geistes liegt, da man wohl zu begreifen vermag, wie sich geistig Göttliches und Menschliches mischt. Irdisch genommen aber ist es ein gar liebliches Fest, weil es den Winter recht eigentlich beschließt und man nun dem heiteren Sommer entgegengeht. – Was Sie über Schmerz sagen, begreife ich sehr wohl, nämlich, daß Sie nicht dahin gekommen wären, Glück und Unglück, und besonders den Schmerz, nicht sehr zu achten. Es hat mir schon öfter geschienen, als wäre Ihnen nicht gerade viel Stärke darin verliehen, und dies ist wohl das Zeichen einer schönen Weichheit einer weiblichen Seele, wo es unnütz und unrecht zugleich wäre, sich abhärten zu wollen. Ich will es daher auch nicht unternehmen, Sie das zu lehren, sondern vielmehr von innigem Herzen wünschen, daß Schmerz und Unglück, so wie jeder Kummer von Ihnen fern bleiben mögen. Ich will gern und mit Freuden, wo ich kann, dazu beitragen. Aber bei einem Manne muß das anders sein. Wenn ein Mann dem Schmerze Herrschaft über sich einräumt, wenn er ihn ängstlich meidet, über den unvermeidlichen klagt, flößt er eher Nichtachtung als Mitleid ein. So vieles muß in einer Frau anders sein als im Manne. Einer Frau geziemt es sehr wohl, und scheint natürlich in ihr, sich an ein anderes Wesen anzuschließen. Der Mann muß gewiß auch das Vermögen dazu besitzen, aber wenn es ihm zum Bedürfnis würde, so wäre es sicher ein Mangel oder eine Schwäche zu nennen. Ein Mann muß immer streben, unabhängig in sich dazustehen.....


Ihre Frage, ob ich je wirklich Schmerz gefühlt hätte, war sehr natürlich. Sie können aber überzeugt sein, daß ich immer von dem zu reden vermeide, was ich nicht aus eigener, wohlerprüfter Erfahrung kenne...

Indem ich von Herzen wünsche, daß es bald besser und recht gut mit Ihrer Gesundheit gehen möge, wiederhole ich Ihnen die Versicherung meiner herzlichsten Teilnahme und Anhänglichkeit. Ihr H.

Glück und Unglück verliert von seinem Wert, wenn es den Kreis der innern Empfindung verläßt. So wie die Wirklichkeit in der Tat immer armselig und beschränkt ist, so vermindert sich auch der Reiz jedes angenehmen Gefühls, wenn man es in Worte kleidet. Im Herzen, wo es entstanden ist, muß es bleiben und wachsen, und wenn es vergänglich ist, wieder vergehen und sterben. Mit dem Unglück ist es nicht anders. Der im eigenen Busen erhaltene Schmerz enthält etwas Süßes, von dem man sich nicht gern mehr trennen mag, wenn ihn die eigene Brust bewahrt...

Trost wüßte ich bei einem andern, als mir selbst, nie zu finden. Es würde mir ein zweites, noch unangenehmeres Gefühl, als das widrige Schicksal durch sich einflößt, geben, wenn ich nicht selbst Stärke genug besäße, mich selbst zu trösten. Dies mag indes bei Frauen billig anders sein. Wenn es bei einem Manne anders ist, ist es nicht lobenswürdig. Ein Mann muß sich selbst genug sein...

Mitleid ist gar eine widrige Empfindung, und Teilnahme zwar eine sehr schöne, aber nur in einer gewissen Art...

Es ist mir unendlich viel wert, zu wissen, daß Sie an allem, was mir begegnet, einen so innigen Anteil nehmen, allein diese Teilnahme wirklich zu erfahren, ihrer gewissermaßen zu bedürfen, könnte ich nicht zu den erwünschtesten Gefühlen rechnen. Überhaupt ist mir das Bedürfen ungemein, nämlich für mich, nur für mich und mein Gefühl, zuwider. Von jeher habe ich gestrebt, nichts außer mir selbst zu bedürfen. Es ist vielleicht nicht möglich, je ganz dahin zu gelangen, aber, wenn man es erreichte, so wäre man erst dann, auf vollkommen reine und uneigennützige Weise, der höchsten Freundschaft und der höchsten Liebe fähig, sowohl sie zu gewähren, als zu genießen. Denn das Bedürfen ist immer etwas Körperlichem im Geistigen ähnlich, und was dem Bedürfnis angehört, geht dem wahren Vergnügen ab. Befriedigung des Bedürfnisses ist nur Abhilfe eines Übels, also immer etwas Negatives, das wahre Vergnügen aber, körperlich und geistig, muß etwas Positives sein. Wer also z. B. am wenigsten der Freundschaft bedürfte, der empfindet die, die ihm gewährt wird, am vollsten und süßesten, sie ist ihm ein reiner und ungetrübter Genuß, ein Zuwachs, den er zu seinem, schon in sich geschlossenen und beglückenden Sein erhält; er gewährt sie dann auch am beglückendsten für den andern, denn es ist in ihm keine Rücksicht auf sich, nur einzig auf den andern dabei. Je stärker und sicherer zwei Wesen, jedes in sich gewurzelt, je einiger mit sich und ihrem Geschick sie sind, desto sicherer ist ihre Vereinigung, desto dauernder, desto genügender für jeden.

Fehlt es dem einen an dieser Sicherheit, so bleibt dem andern für beide hinreichend übrig. Nur was so die Alltagsbegriffe der Freundschaft und Liebe von gegenseitigem Stützen aufeinander sagen, ist schwach und nur für sehr mittelmäßige Menschen und Empfindungen gemacht, denn leicht stürzen dabei beide, indem keinem die Schwachheit des andern Gewähr der Sicherheit leistet. Nur auf diese Weise müssen Sie mich verstehen, wenn ich von männlicher Selbständigkeit rede, die ich wirklich für die erste Bedingung männlichen Werts halte. Ein Mann, der sich durch Schwächen verführen, hinreißen läßt, kann gut, in andern Punkten recht liebenswürdig sein, er ist aber kein Mann, sondern eine Art Mittelding zwischen beiden Geschlechtern. Er sollte daher eigentlich, obgleich dies manchmal sehr umgekehrt ist, nicht ausgezeichneten Beifall bei Frauen finden. Denn die schöne und reine Weiblichkeit sollte nur durch die schönste und reinste Männlichkeit angezogen werden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin