Tegel , den 26. Januar 1830.

Sie müssen, liebe Charlotte, zwei Briefe von mir bekommen haben, die noch unbeantwortet sind, einen vom 9. und einen vom 21. Januar. Ihr letzter war nicht auf meine Bitte, sondern aus eigener Bewegung geschrieben, und meinen Brief vom 9. werden Sie vermutlich zu spät empfangen haben, um ihn an dem darin genannten Tage zu beantworten. Da ich aber weiß, daß Ihnen meine Briefe Freude machen, und ich gerade einige Zeit frei habe, so will ich Ihnen schreiben, ohne erst eine Antwort abzuwarten. Vielleicht bekomme ich dieselbe auch noch, ehe ich den Brief schließe, da heute noch eine Gelegenheit aus der Stadt herkommt. Es liegt mir sehr daran, zu wissen, wie es Ihnen geht, und ob Sie die Ruhe und Heiterkeit wiedergewinnen, die ich Ihnen so sehr wünsche. Noch erfreulicher sollte es mir sein, wenn mein Anteil und meine Ratschläge in der Tat wirksam dazu beitrügen. Das Wahre und Eigentliche müssen Sie zwar selbst dazu tun. Denn es bleibt immer ein sehr wahrer Ausspruch, daß das Glück im Menschen selbst liegt. Das Freudige, was ihm der Himmel verleiht, beglückt nur, wenn es auf die rechte Art aufgenommen wird, und das Bittere und Herbe, das das Schicksal ihn erfahren läßt, steht es in seiner Gewalt sehr zu mildern.

Wo es auch gar keinen Trost zuläßt, wie es denn allerdings solche Unglücksfälle gibt, hat Gott noch die Wehmut zu einer Art Vermittlerin zwischen dem Glück und dem Unglück, der Süßigkeit und dem Schmerz geschaffen. Sie macht den Schmerz zu einem Gefühl, das man nicht verlassen mag, an dem man hängt, dem man sich überläßt mit dem Bewußtsein, daß er nicht zerstörend, sondern läuternd, veredelnd in jeder Art und auf jede Weise erhebend wirkt. Es ist ein Großes, wenn der Mensch die Stimmung gewinnt, alles, was ihn betrifft, bloß weil es menschlich ist, weil es einmal im irdischen Geschick liegt, dagegen anzukämpfen, aber zugleich so aufzunehmen, wie es sich in der Bestimmung des Menschen, sich immer reifer und mannigfaltiger zu entwickeln, am besten vereint. Je früher man zu dieser Stimmung gelangt, desto glücklicher ist es. Man kann dann erst sagen, daß man das Leben wirklich erfahren hat. Und um des Lebens willen ist man doch auf der Welt, und nur was man in seinem Gemüt durch das Leben errungen hat, nimmt man mit hinweg. Es ist ein sehr großes Glück, wenn man all sein Denken und Empfinden an einen Gegenstand setzt. Man ist dann auf immer geborgen, man begehrt nichts mehr vom Geschick, nichts mehr von den Menschen, man ist sogar außerstande, etwas anderes von ihnen zu empfangen als die Freude an ihrem Glück. Man fürchtet auch nichts von der Zukunft Man kann nicht ändern, was nicht zu ändern ist; aber das eine, das Hängen an einem Gedanken, einem Gefühl, wenn es auch durch den grausamsten Schlag, der einen Menschen betreffen kann, nur zu dem Hängen an einer Erinnerung würde, das bleibt immer. Wer das stille Hängen an einem Gedanken erreicht hat, besitzt alles, weil er nichts anderes bedarf und verlangt. Noch beruhigender und beglückender ist natürlich ein solches Hängen an einem, wenn das eine nichts Irdisches, sondern das Göttliche selbst ist. Aber auch im Irdischen ist solch ein treues, die ganze Seele einnehmendes Hängen an einem Gefühl immer von selbst auf das gerichtet, was im Irdischen selbst nicht irdisch ist. Denn das bloß Irdische ist nicht fähig, die Seele so auf sich zu heften. Der Probierstein der Echtheit des Gefühls ist nur, daß es von aller Unruhe frei, mit keiner Art des Begehrens gemischt sei, daß es nichts verlange, nichts fordere, keine andere Sehnsucht kenne, als in der Art, wie es ist, fortzudauern. Darum ist das Gefühl für Verstorbene ein so süßes, so reines, so der Sehnsucht hingegebenes Gefühl, das bis ins Unendliche fortwährt, ohne sich je zu zerstören, in deren Wachstum selbst die Seele ohne Unterlaß Kraft gewinnt, sich ihr in einer süßen Wehmut zu überlassen. Sobald das Gefühle für das Göttliche sind, sind es unstreitig die reinsten und von aller irdischen Beimischung am meisten geläuterten. Sie haben zugleich das Eigentümliche, daß sie der Erde nicht entfremden und doch allem Drohenden und Schmerzlichen, was die Erde auch oft hat, den Stachel und den Wermut benehmen. Da der Gedanke an die Verstorbenen mit allem dem zusammenhängt, was sie im Leben umgab, so sind sie, statt vom Leben abzuführen, vielmehr immerfort Verknüpfungsmittel mit demselben; es gibt in jeder Lage noch immer Gegenstände, an welchen man sich die Verstorbenen als teilnehmend und noch mit dem Leben verknüpft denkt. Diese knüpfen auch den Zurückbleibenden noch an das Leben, aber es ist eine Verknüpfung, die dem Leben das Schwere benimmt, da man sich doch nicht mehr ganz als ihm angehörend betrachtet. Wenn die liebsten Gedanken alle jenseits des Lebens sind, wenn das Leben keinen hat, der diesen die Wage halten könnte, so kann, was man sonst im Leben zu fürchten pflegt, einem irgend gegen irdische Schicksale Gewaffneten nicht sonderlich furchtbar erscheinen. Zeit und Ewigkeit verknüpfen sich im Gemüte zu einer Ruhe, die nichts mehr stört. Ich habe mir immer, ehe ich noch die Erfahrung selbst gemacht hatte, gedacht, daß es so sein müßte. Ich habe es nie für möglich gehalten, daß es für einen wahren Verlust auch nur einen scheinbaren Ersatz geben könnte. Jetzt empfinde ich das wirklich, da das Los mich getroffen hat. Ja, ich werde mit großer Freude gewahr, daß sich die wahre und richtige Einwirkung, die solcher Verlust haben muß, mit der Zeit immer vollkommener und richtiger entfaltet, wie die irdische Nacht tiefer wird, je länger sie währt. Die Freude, die man am nächtlichen Dunkel hat, und für die ich immer sehr empfänglich gewesen bin, ist dieser Empfindung ähnlich. Man ist allein und will allein sein, man gewahrt äußerlich nichts, und innerlich regt sich ein doppeltes Leben. Der Tag ist gewesen und der Tag wird wiederkehren.


Es ist ein schrecklicher Winter in diesem Jahr, und noch durchaus keine Aussicht, daß er sich bald milder lösen will. Wenn man die viele Not bedenkt, die er mit sich führt, so ist das sehr beklagenswert. Allein sonst ist mir keiner so leicht geworden. Dies liegt in der Ruhe und Unabhängigkeit der Einsamkeit, worin ich lebe. Ich gehe alle Tage spazieren, allein außerdem verlasse ich die aneinander stoßenden drei Zimmer, die ich allein bewohne, nie, und der Anblick der unberührten Schneeflächen und des unendlichen Glanzes, den die Sonne, deren Auf- und Untergang ich von meinen Fenstern aus sehe, und abends Mond und Venus und die anderen Sterne über die Schneefläche und den gefrorenen See ausstrahlen, ist unbeschreiblich. – Ich bitte Sie, Ihren nächsten Brief am 2. Februar oder, wenn das nicht möglich ist, doch noch in der ersten Woche des Februar abgehen zu lassen. – Leben Sie recht herzlich wohl und bleiben Sie meiner aufrichtigen und innigen Teilnahme versichert. Ganz der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin