Tegel , den 2. Februar 1832.

Der heitere Ton Ihres lieben Briefes vom 12. Januar hat mir die größte Freude gemacht, und ich danke Ihnen, liebe Charlotte, recht herzlich und aufrichtig dafür. Ich habe diesen Brief schon lange bekommen, aber keinen zweiten, von dem Sie doch in diesem reden. Sie wollten ihn acht Tage später schreiben, wäre das geschehen, so müßte der Brief längst in meinen Händen sein.

Ich nehme immer den lebhaftesten und aufrichtigsten Teil an Ihnen, Ihrem Befinden und Ihrer Gemütsstimmung, und so wäre mir die größere Heiterkeit, die aus Ihrem Briefe hervorleuchtet, immer noch ein Gegenstand großer, inniger Freude gewesen. Noch erfreulicher aber ist es, daß Sie diese größere Ruhe, diese freudigere Erhebung des Gemüts, welche Sie in sich wahrnehmen, dem Einfluß, den ich auf Sie ausübe, und den Eindrücken meiner Briefe zuschreiben. Es soll mir unendlich lieb sein, wenn sie eine solche Kraft besitzen. Wenn dem so ist, wie ich denn gewiß glaube und sicherlich keinen Zweifel in Ihre Worte setze, so entspringt es aus dem Gefühl und der Zuversicht, die Sie haben, und die Ihnen die einfache Natürlichkeit meiner Worte einflößen muß, daß, was ich sage, unmittelbar aus meinem Herzen kommt. In etwas anderem kann es nicht liegen. Es geht überhaupt mit allem Zuspruch in Belehrung, Tröstung und Ermahnung so. Das Belehrende, Tröstende, Ermahnende, wenn es erfolgreich ist und dem in das Gemüt und die Seele dringt, an welchen es gerichtet ist, liegt nur zum kleinsten Teil in den dargestellten Gründen selbst. Viel mehr schon ruht die Wirkung in dem Ton und dem begleitenden Ausdruck, weil dieser der Persönlichkeit angehört. Denn eigentlich kommt alles auf diese an, das ganze Gewicht, was ein Mensch bei einem anderen hat, teilt sich demjenigen, was er sagt, mit, und dasselbe im Munde eines anderen hat nicht die gleiche Wirkung. Sie müssen es also den Gesinnungen zuschreiben, die Sie für mich so liebevoll hegen, wenn meine Worte vorzugsweise Eindruck auf Ihr Gemüt machen. Es freut mich aber ungemein, wenn Sie sagen, daß ich Ihnen in Trost und Ermutigung gerade das zubringe, was Ihrer Stimmung angemessen ist. Ein natürlicher Hang hat mich schon sehr früh im Leben auf das Streben geleitet, in jeden Charakter und in jede Individualität so tief einzugehen, als möglich war, um mich möglichst in ihre Denkungs-, Empfindungs- und Handlungsweise zu versetzen, und was Sie mir sagen, ist mir ein neuer Beweis, daß mir mein Bestreben nicht ganz mißlungen ist. Es ist aber nicht genug, die Ansichten der Menschen zu kennen, man muß auch zu bestimmen verstehen, wie sie sich zu denen verhalten, die man als die unbedingt richtigen, hohen und von allen, den einzelnen Individualitäten immer anklebenden Einseitigkeiten freien, anzusehen hat, und danach die Richtung des Individuums lenken. Auf diesem Wege muß man dahin gelangen, jedem einzelnen nicht bloß verständlich zu werden, sondern ihn auch auf diejenige Weise zu berühren, welche gerade für seine Empfindungsart die passendste und angemessenste ist. Man braucht aber bei diesem Gange nie seine eigene Natur weder aufzugeben, noch zu verleugnen, auch nicht die fremde unbedingt für die einzig beifallswürdige anzusehen. Da man immer von dem Punkte ausgeht und wieder dahin zurückkommt, wo sich alle Individualitäten ausgleichen und vereinigen, so fallen die schneidenden Kontraste von selbst weg, und es bleibt nur das miteinander Verträgliche übrig. Es ist wirklich das Wichtigste, was das Leben darbietet, sich nicht in sich zu verschließen, sondern auch ganz verschiedenen Empfindungsweisen so nahe als möglich zu treten. Nur auf diese Art würdigt und beurteilt man die Menschen auf ihre und nicht auf seine eigene, einseitige Weise. Es beruht auf dieser Manier zu sein, daß man Respekt für die abweichende des anderen behält und seiner inneren Freiheit niemals Gewalt anzutun versucht. Es gibt außerdem nichts, was zugleich den Geist und das Herz so anziehend beschäftigt, als das genaue Studium der Charaktere in allen ihren kleinsten Einzelheiten. Es schadet sogar wenig, wenn diese Charaktere auch nicht gerade sehr ausgezeichnete oder sehr merkwürdige sind. Es ist immer eine Natur, die einen inneren Zusammenhang zu ergründen darbietet, und an die ein Maßstab der Beurteilung angelegt werden kann. Vor allem aber gewährt einem diese Richtung den Vorzug, die Fähigkeit zu gewinnen, den Menschen, mit denen man in Verbindung steht, innerlich in aller Rücksicht mehr sein zu können.


Was Sie mir von den Äußerungen einiger Menschen über Todesfälle schreiben, habe ich sehr merkwürdig gefunden. Die Betrachtung, daß dem Verstorbenen wohl ist, wird sehr oft nur als ein Vorwand vorgebracht, seine eigene Gleichgültigkeit zu beschönigen. So wahr auch übrigens der Satz gewiß ist, so läßt er sich nicht einmal immer anwenden. Auch der Verstorbene ist oft zu beklagen, daß er so früh oder gerade in dem Augenblicke, wo er starb, hinweggerissen wurde. Eine junge Person hätte gern länger gelebt; eine Mutter wäre gern bei ihren Kindern geblieben, und hundert Fälle der Art. Für den Zustand jenseits gibt es kein zu früh oder zu spät, die Spanne des Erdenlebens kann dagegen garnicht in Betrachtung kommen. Die Wehmut, die das Herz bei Todesfällen geliebter oder geschätzter Personen erfüllt, ist eine Empfindung, die mit vielen im Gemüt zugleich zusammenhängt. Es ist wohl der Zurückbleibende, der sich selbst beklagt, aber es ist weit mehr noch als dies immer mehr oder weniger auf sich selbst und sein Glück bezogene Empfindung. Wenn der Tote ein sehr vorzüglicher Mensch war, so betrauert man gleichsam die Natur, daß sie einen solchen Menschen verlor. Alles um uns her gewinnt eine andere und schwermütigere Farbe durch den Gedanken, daß der nicht mehr ist, der für uns allem Licht, Leben und Reiz gab, es ist nicht mehr das einzelne Gefühl, daß uns der Dahingegangene so und so glücklich machte, daß wir diese und jene Freude aus ihm schöpften, es ist die Umwandlung, die unser ganzes Wesen erfahren hat, seit es den Weg des Lebens allein verfolgen muß. Für ein tiefer empfindendes Herz liegt auch darin ein höchst wehmütiges Gefühl, daß das Schicksal so enge Bande zerreißen konnte, daß die innere Verschwisterung der Gemüter nicht den Übrigbleibenden von selbst dem Vorangegangenen nachführte. Ich begreife, daß dies Gefühl nur in wenigen so lebendig sein, nur auf wenige Fälle passen könne. Aber auch ganz einfache Fälle, selbst unbedeutende, nur harmlose und gute Menschen, wenn sie auch kaum eine Lücke in der Reihe der Zurückgebliebenen zu machen scheinen, erregen doch immer Wehmut und Schmerz, die in einem irgend fühlenden Gemüt nicht so leicht und nicht so bald verklingen. Das Leben hat seine unverkennbaren Rechte, und es gibt nichts Natürlicheres als den Wunsch, womöglich mit allen, die man liebt und schätzt, zusammen darin zu bleiben, und den Schmerz, den nie endenden, wenn dies Band zerrissen wird. Die zu große Ruhe bei dem Hinscheiden geliebter Personen, wenn sie auch nicht aus Gefühllosigkeit, sondern aus christlicher Ergebung entspringt, ja die unnatürliche Freude, daß sie ins Himmelreich eingegangen sind, zeigen immer von einem überspannt frömmelnden Gemüt, und ich habe niemals damit sympathisieren können.

Die guten Nachrichten von Ihrer gestärkten Gesundheit haben mir lebhafte Freude gemacht. Suchen Sie nur ja, sich recht viel Bewegung zu machen. Dieser so ungewöhnlich gelinde Winter ladet doppelt dazu ein. Ich erinnere mich seit Jahren keines ähnlichen. Es ist wenigstens hier gar kein Schnee mehr. Wunderbar aber ist es, daß der See, der mehr als eine Meile im Umkreise hat, und in dem ich bloß fünf Inseln besitze, noch immer fest zugefroren ist. Die nächste Stadt von hier ist Spandau, die gerade an der gegenüberstehenden Seite des Sees liegt. Nun kommen alle Tage eine Menge Schlittschuhläufer von dort zum Vergnügen hierher, auch Frauenspersonen in Handschlitten, die von Schlittschuhläufern gestoßen werden. Dies geschieht alle Jahre, aber fast in jedem Jahr verunglückt auch einer bei solcher Postreise. Sie setzen nämlich diese Überfahrten zu lange, wenn auch schon Tauwetter ist, fort und kommen dann auf schwache, einbrechende Stellen. Diese Beispiele vermögen aber die anderen nicht abzuschrecken.

Mein Befinden ist sehr gut, ich habe kaum einmal einen Schnupfen in diesem Winter gehabt, aber ich mache mir viel Bewegung, und das tut mir immer ungemein wohl.

Ich bin im Schreiben dieses Briefes gestört worden und endige ihn erst heute, den 6. Februar. Leben Sie herzlich wohl, mit inniger Teilnahme und Freundschaft der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin