Tegel , den 16. Nov. bis 7. Dez. 1833.

Ich fange diesen Brief an, liebe Charlotte, ohne noch einen von Ihnen empfangen zu haben; ich denke aber gewiß, daß in diesen Tagen selbst einer ankommen muß. Zuerst habe ich noch auf eine Stelle Ihres Briefes zurückzukommen, die eigentlich ganz unbeantwortet von mir geblieben ist, und wofür ich Ihnen sehr danke. Es ist nämlich das, was Sie über die verschiedene Art Bücher zu lesen sagen, und über das, was man in ihnen zu suchen hat. Sie beziehen sich dabei auf Goethe. Sie wissen, ich liebe es sehr, wenn man im freundschaftlichen Briefwechsel es frei ausspricht, wo die Meinungen nicht übereinstimmen. Dann auch haben Sie mich veranlaßt, die schöne Stelle in Goethes »Wahrheit und Dichtung« wieder zu lesen, auf die Sie sich beziehen. Im ganzen aber ist es, wie es gewöhnlich im Entgegenstellen der Behauptungen geht, daß man einander doch nicht bekehrt. Meine Art ist es einmal und wird es immer bleiben, ein Buch ebenso wie einen Menschen als eine Erscheinung an sich, nicht als eine Gabe für mich anzusehen. Ich gehe darum noch nicht, wie Goethe sagt, in die Kritik desselben ein, ebensowenig wie ich dies bei einem Menschen tue. Aber ich betrachte es wie ein Produkt des menschlichen Geistes, das ohne alle Beziehung auf meine Gedanken und Gefühle einen eigenen Ideenzusammenhang und eine eigene Gefühlsweise ausspricht und meine Aufmerksamkeit dadurch in Anspruch nimmt. Ich begreife indes, daß viele Leser die Bücher mehr zu sich hinziehen und sie weniger objektiv nehmen, und wenn Sie mich fragen, ob es einem Schriftsteller unangenehm sein könne, wenn er Beruhigung oder Erheiterung in ein dieser oder jener bedürfendes Gemüt ergieße oder eine gebeugte Seele ermutige, so antworte ich mit voller Überzeugung: er ist gewiß damit zufrieden und fühlt sich belohnt, gesetzt, es wäre auch nicht gerade sein Zweck. Ich wollte Ihnen nur sagen, wie ich Bücher lese, keineswegs aber Ihre Weise tadeln.

Den 4. Dezember. Ich bin nunmehr im Besitz Ihres Briefes vom 24. November und danke Ihnen herzlich für den ganzen Inhalt desselben. Erhalten Sie sich in der ruhigen, heitern, zufriedenen Stimmung. Eine Heiterkeit wie die, von der Sie sagen, daß sie Ihnen natürlich inwohnt, ist eine sehr glückliche Gabe des Himmels oder des Schicksals und, wie Sie selbst sehr richtig bemerken, mehr noch eine Frucht einer natürlich einfachen, bescheiden genügsamen Gemütsart. Wenn sie aber auch so, gleichsam von selbst, im Charakter hervorblüht, so kann und muß man sie doch auch nähren und unterstützen. Ich meine das nicht von außen, sondern recht eigentlich von innen. Ebenso ist es auch mit der Wehmut. Der Mensch hat sich, wenn er irgendein innerliches Leben gelebt hat, ein geistiges Eigentum von Überzeugungen, Gefühlen, Hoffnungen, Ahnungen gebildet. Dies ist ihm sicher, ja, im eigentlichen Verstande unentreißbar. Kann er darin sein Glück, seine Beruhigung, seine stille Heiterkeit finden, so ist ihm diese gesichert und geborgen, wenn seine Stimmung auch wehmütig bleibt. Denn jeder Gegenstand edler Wehmut schließt sich willig an den eben genannten Kreis an. Sobald man überhaupt irgend etwas, was das Gemüt ergreift, in das Gebiet geistiger Tätigkeit hinüberführen kann, wird es linder und mischt sich auf eine sehr versöhnende Weise mit allem, was uns eigentümlich ist, wovon wir, wenn es auch schmerzte, uns nicht trennen könnten, ja nicht trennen möchten. Ich meine aber unter geistiger Tätigkeit nicht die der Vernunft. Diese könnte ein fühlendes Gemüt nur zu starrer Resignation bringen, die immer eine Ruhe des Grabes ist und nicht die schöne lebendige Heiterkeit gewähren kann, von der ich hier rede. Die rein geistige Wirksamkeit hat aber ein viel weiteres Gebiet und verschmilzt mit der Empfindung gerade zu dem Höchsten, dessen der Mensch fähig ist, und diese Verschmelzung enthält das wahre Mittel aller wahrhaft hilfreichen Beruhigung. Der Gedanke verliert in ihr seine Kälte, und die Empfindung wird auf eine Höhe gestellt, auf der sich die verletzende einseitige Beziehung auf das persönliche Selbst und den Augenblick der Gegenwart abstumpft. Leben Sie herzlich wohl! Ihren letzten Brief beantworte ich das nächste Mal. Mit dem innigsten Anteil der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin