Tegel , den 15. Mai 1823.

Ich schreibe Ihnen, liebe Charlotte, von meinem kleinen Landsitze aus, der Ihnen schon bekannt ist. Ich bin mit den Meinigen seit einigen Tagen hier, das Wetter aber begünstigt uns sehr wenig. Es ist ein ewiges Stürmen, Regnen, oder wenigstens ein mit Wolken bedeckter Himmel. Den letztern liebe ich zwar wohl im Sommer. Wenn die Wolken leicht sind und nur wie ein zarter Schleier das helle Blau verhüllen, und es dabei windstill und warm ist, so hat es etwas Wehmütiges, was einer gleichgestimmten Seele sehr wohl tut. Das Grün ist noch sehr zurück, die Eichen im Walde fangen erst an, Laub anzusetzen, und nur die frühesten Bäume, Kastanien, Flieder und solche prangen schon in vollem Laube. Dagegen sind die Blüten der Obstbäume reich und schön. Ich denke mir täglich, daß Sie das alles nun auch in Ihrem Garten genießen und bin nur bange, daß der Wind und das schlimme Wetter, da Ihre Wohnung, wie Sie schreiben, gar nicht dicht genug verwahrt ist, Ihnen darin lästig sein werden. Die Anwesenheit meines Bruders in Berlin und eine Reihe anderer kleiner Umstände hatten gemacht, daß ich den ganzen Winter über in der Stadt geblieben war und gar keinen Aufenthalt hier gemacht hatte; so ist mir das Land wie neu und ich genieße es doppelt. Es ist eigentlich wunderbar, daß gerade die freie Natur und die Einsamkeit einen so großen Reiz für mich haben, da mein Leben nicht dazu beitragen konnte. Wenn man immer daran gewöhnt gewesen ist, oder wenn man es in sehr langer Zeit nicht genossen hat, in beiden Fällen kann man eine solche Neigung leicht erklären. Die Neuheit tritt im letzten Fall an die Stelle der Gewohnheit. Bei mir war keins von beiden der Fall. Ich bin weder ganz von Land und Einsamkeit, auch nur auf mehrere Jahre entfernt gewesen, noch habe ich beide so viel genossen, daß sie mir gleichsam zur andern Natur geworden wären. Als ich viele Jahre lang noch nicht in Geschäften war, reiste ich, oder war sonst unter Menschen, hatte nicht einmal ein Gut, und wohnte aus eigener, freilich durch andere Dinge bestimmter Wahl in kleinen Städten. Die Geschäfte zogen mich in große und vielfache von aller ländlichen Einsamkeit entfernte Zirkel. Doch auch dann fand ich Mittel, mich zu isolieren, und war oft mitten in der Gesellschaft einsam. Man lernt das sehr gut, wenn man nur ein innerliches Interesse hat, das genug die Seele einnimmt. Ich habe es aber immer als eine wahre Wohltat des Himmels angesehen, für die ich dem Geschick nicht genug danken kann, und empfinde es noch jeden Tag ebenso, daß es mich gerade in meinem Alter in die Lage versetzte, in der ich, wie es auch sonst immer sein möge, dieser Lieblingsneigung frei nachhängen kann. Die meisten legen es mir noch als eine Anspruchlosigkeit und Philosophie aus, daß ich nicht bloß im Augenblicke, wo es geschah, die Geschäftswirksamkeit mit Gleichmut aufgegeben habe, sondern auch seitdem ruhig, beschäftigt und glücklich lebe, ohne Plan wieder in dieselbe zu treten und mit sichtbarer Abwesenheit aller Zeichen, daß ich auch versteckt irgend eine Sehnsucht danach habe. Ich mache mir nicht das mindeste Verdienst daraus, weil ich weiß, daß ich keins dabei habe. Was geschehen ist, entsprach meiner Neigung, die sich auf Grundlagen meines innern Charakters stützt, so ist es kein Wunder, daß sie dauernd ist. Sie wird nie geschwächt werden. Es ist mir überhaupt immer eine widrige Idee gewesen, so bis zum Ende des Lebens an Verhältnissen teilzunehmen, die mit dem Moment des Todes alle gleichsam zu nichts werden, von denen man nichts jenseits mit hinüber nimmt. Und doch ist in Geschäften alles in dieser Art. Ganz anders ist es mit der Beschäftigung mit Ideen und Kenntnissen. Auch wenn die letztern ganz ins Einzelne eingehen, hängen sie doch zuletzt immer mit Ideen zusammen, die, wenn man sie recht verfolgt, ihren Mittelpunkt nicht mehr in dieser Welt haben.

Was man in dieser Art erwirbt und ausbildet, behält man wahrhaft und trägt es mit sich, so lange noch überhaupt Dasein währt. Es hat mir immer unmöglich geschienen, daß, was einmal in mir denkt und empfindet, je aufhören könnte zu denken und zu empfinden. Wenn auch Zwischenräume mangelnden Bewußtseins eintreten, wenn die verschiedenen Zustände des Seins nicht verknüpft sein sollten durch zusammenhängende Erinnerung, so wirkt die einmal gefaßte Idee darum nicht minder auf das Wesen und den inneren Gehalt der Seele. Ganz anders ist es, wenn man die, an äußern Verhältnissen, wirklichen Geschäften teilnehmende Arbeit, nicht aus ganz freier Wahl, nicht aus unmittelbarer Liebe zu ihr, sondern aus andern Rücksichten und als einen Erwerb treibt. Auf diese Art würde ich sie ohne Mühe so lange fortsetzen können und fortgesetzt haben, als nur die Kräfte es zulassen. Darin sind Frauen besonders gut daran, daß die Arbeiten, die sie auf diese Weise machen, wenn auch nicht immer ganz, doch größtenteils mechanischer Art sind, den Kopf wenig, die Empfindung gar nicht in Anspruch nehmen, und also den bessern, zartern und höhern Teil des Menschen viel mehr sich selbst überlassen, als das bei Männern der Fall ist. Daher werden Männer so leicht einseitig, trocken, hölzern durch ihre Arbeit, Frauen nie, wenn sie auch durch Umstände und Widerwärtigkeiten bestimmt werden, einen Erwerb darin zu suchen, wenn in ihrem frühern Leben sie noch so fern von einer solchen Notwendigkeit waren.


Was mir aber weniger angenehm ist in meiner Lage, ist, daß ich nicht gut vermeiden kann, auch in demselben Jahre mehrmals den Aufenthalt zu wechseln. Ich gewöhne mich zwar leicht an einen neuen Ort, aber ich bleibe lieber an einem alten, und es hat vorzüglich einen großen Reiz für mich, so in demselben die Reihe der Jahreszeiten vorübergehen zu sehen. Die bloßen regelmäßigen Veränderungen der Zeit haben einen Reiz für mich, den ich mir oft selbst vergebens zu erklären versucht habe. Sie werden sagen, daß bei der völligen Freiheit, die ich genieße, ich leicht auch hier mein Leben nach meinen Wünschen einrichten könnte. Allein es gibt doch immer auch für den Freiesten Umstände, die ihn mit einer gewissen Nötigung bestimmen, und so geht es auch mir. Leben Sie nun herzlich wohl und verzeihen Sie, wenn ich in diesen Zeilen viel von mir sprach. Ich rede zu Ihnen, wie zu mir selbst, und habe es auch gern, wenn Sie mir von sich erzählen. Mit der herzlichsten Anhänglichkeit der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin