Tegel , den 15. April bis 8. Mai 1834.

Sie haben, liebe Charlotte, bemerkt, daß meine Handschrift in meinen zwei letzten Briefen größer, bestimmter und deutlicher geworden ist, und ich sah daraus, daß diese Veränderung Sie überraschen und Ihnen auffallen würde. Es ist ein Sieg, den mein Wille endlich durch festen Vorsatz über meine Hand davongetragen hat. In Hinsicht der Unbequemlichkeit, eigentlich nicht schreiben zu können, sondern alles diktieren zu müssen, bringt mich zwar diese Verbesserung nicht weiter, da die neue Methode eher langsamer als schneller wie die bisherige ist. Es ist indes doch ein wahrer Gewinn, daß es ordentlicher aussieht und keine Schwierigkeit zu lesen macht, da die vorige Schrift auf ängstliche Weise in Unleserlichkeit überging. Man kommt so im Alter auf die Kinderschrift zurück. – Es ist ein großer, wichtiger und mißlicher Punkt im Alter, der wenigstens mich beständig begleitende Zweifel, ob die Jahre nicht allmählich eine Schwächung des Geistes oder Charakters oder beider unbemerkt hervorbringen. Wer vernünftig ist und wahr mit sich selbst umgeht, muß sich gestehen, daß es kaum anders sein kann. Alles nützt sich durch die Zeit ab, und die Abhängigkeit der Seele vom Körper kommt dazu. Bisweilen ertappt man sich auch wohl selbst auf einzelnen Beweisen. Es bleibt aber immer ein quälender Gedanke, ob diese Fälle nicht ungleich häufiger sind, als man sie bemerkt. Man mißtraut mit Recht dem eigenen Urteile, weil seine Schärfe auch durch dieselbe Abnahme gelitten haben muß, und man von anderen nie die Wahrheit über solchen Punkt erfährt. Am meisten, behauptet man gewöhnlich, leide das Gedächtnis. Das kann ich aber an mir nicht finden; auch würde mich das, wenn es nicht zu arg damit würde, am wenigsten kümmern. Schlimmer und schwerer zu bemerken ist der Mangel an Festigkeit im Urteil, ja die Schwierigkeit, sich bestimmt genug aus dem Zweifel herauszuwickeln, um nur überhaupt ein entschiedenes zu fällen. Es ist dies Charakterunschlüssigkeit, welche vom Handeln auf das Denken übergeht, da alles Geistige im Innern des Menschen immer in unzertrennlichem Zusammenhange miteinander steht. Das Schlimmste von allem aber ist die Fruchtbarkeit an Ideen. Sie hängt natürlich von der Stärke, Regsamkeit und Lebendigkeit aller Geisteskräfte zusammengenommen ab. Es ist daher auch natürlich, daß die Zahl der zunehmenden Jahre darauf bedeutenden Einfluß ausübt. Schon die Abstumpfung der Sinne bringt um sehr viel. Alle Begriffe, die, auch früher gesammelt, auf sinnlichen Wahrnehmungen beruhen, verlieren an Bestimmtheit, Deutlichkeit und besonders an weiter anregender Anschaulichkeit. Was ich aber am meisten besorge, ist eine Art Einschlafen der Seele, daß sie sich immer in einem ihr längst bekannten Kreise herumdrehe und sich einbilde, dadurch in befriedigender Tätigkeit zu bleiben. Das Wachsein des Geistes, seine Fruchtbarkeit an Vorstellungen, die er bald aus der äußeren Beobachtung der Dinge und Menschen, bald aus seinem Innern schöpft, oder das feste Fortrücken in längst begonnenen, vielleicht durch einen Teil des Lebens hindurchgeschlungenen Ideenreihen, ist das wahre, dem menschlichen Dasein erst Wert verleihende Glück des Lebens, und zwar nicht bloß für intellektueller organisierte, höher gebildete, mehr dem Denken ergebene Menschen, sondern für alle. Denn jeder hat einen inneren Kreis von Ideen und Gefühlen, Wahrheiten und Vorurteilen, Phantasien und Träumen, in dem er wach und regsam bleiben und den er als innere Beschäftigung weiter ausspinnen will. Wie wenig geistig auch ein Mensch in seiner Natur sein möge, so fürchtet er doch keinen Vorwurf so sehr als den der Geistesschwäche. Vor großer ist man vielleicht ohne besondere bedeutende Krankheit sicher, aber kleinere ist auch betrübend genug, und man ängstigt sich mehr davor, da sie einem leicht lange unbemerkt bleiben könnte.

Ich habe Ihren letzten Brief später als gewöhnlich empfangen, und es hat mich geschmerzt zu sehen, daß Sie wieder sehr trübe gestimmt waren. Sie sagen zwar selbst, daß die Zeit dies auch wieder heilt, aber das Leben ist doch zu kurz, um sich ganze Wochen so rauben zu lassen. Sie waren auch zu meiner großen Freude eine längere Zeit heiterer und zufriedener gestimmt. Kehren Sie dahin zurück, ich bitte Sie recht dringend darum; man kann viel, wenn man sich nur recht viel zutraut. Stimmungen entstehen allerdings oft aus Ursachen, über welche der Mensch nur wenig Gewalt hat, aber sie nehmen zu und werden der inneren Gemütsruhe immer verderblicher, wenn man sich in ihnen gehen läßt. Am sichersten stellt man ihnen Gefühle entgegen, und Sie haben es gewiß oft selbst an sich erfahren, daß sich das Gefühl für erhabene und tief ergreifende Dinge so erwärmen kann, daß alle dunkeln und dumpfen Stimmungen dadurch verscheucht werden.


Mit der freundschaftlichsten Teilnahme der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin