Tegel , den 14. März bis 4. April 1834.

Es freut mich, daß die Stolbergsche italienische Reise Ihnen Befriedigung gewährt. Ich dachte mir gleich, daß sein gründliches Eingehen in die Gegenstände, woran andere Anstoß nehmen, Ihnen seine Darstellung gerade interessant machen würde. Ich glaubte immer, daß Stolbergs Katholizismus eine Folge seines Aufenthalts im Münsterschen gewesen wäre, wo es damals einige sehr eifrige, aber geistvolle und gemütreiche Katholiken, Männer und Frauen, in den vornehmsten Familien gab. Es ist indes sehr möglich, daß auch die italienische Reise dazu wesentlich mit beigetragen hat. Die Schönheit und Pracht der Kirchen kann wohl ein ernsthaftes Gemüt nicht zu einem andern Glauben verführen, allein sehr erfreulich und in gewissen Momenten erhebend ist sie unleugbar, auch ganz abgesehen von aller Beziehung auf Glauben und Katholizismus, bloß für einen regsamen, gegen innere Eindrücke leicht empfänglichen Sinn. Etwas anderes damit Verbundenes hat mir aber immer noch einflußreicher geschienen, ich meine den in den meisten katholischen Ländern herrschenden Gebrauch, die Kirchen den ganzen Tag offenstehen zu lassen. Der Geringste im Volke erhält dadurch einen Ort, wo er unbemerkt einsam sitzen und seinen Gefühlen und Gedanken ungestört nachhängen kann und gleichsam neben seiner von allen irdischen Mühseligkeiten durchwimmelten Wohnung eine von diesem allen entblößte Freistatt findet, in der ihn alles auf wahrhaft hohe und würdige Betrachtungen führt. Das beständige sorgfältige Verschließen unserer protestantischen Kirchen hat, wie schwerlich abgeleugnet werden kann, etwas Trübes und macht, daß auch darin vorhandene Pracht und Kunst nicht wahrhaft zum öffentlichen Genuß kommt. Man gelangt nur durch ausdrückliches Aufschließen des Kirchners, den man herbeiholen lassen muß, dazu. In jenen Ländern nimmt das ganze Volk einen freieren und freudigeren Anteil daran, und man würde sehr irren, wenn man glaubte, daß das Volk dagegen unempfindlich wäre.

Die geschmacklosen Stellen einiger alten Kirchengesänge, von denen Sie schreiben, bin ich weit entfernt in Schutz zu nehmen. Das Dichterische hängt nicht notwendig mit der Bildung zusammen, hängt wenigstens nicht von ihr ab, es beruht auf Schwung und Tiefe, und der Sinn dafür findet sich oft reiner beim Volke als bei der Klasse der gebildeten, aber nicht ganz durchgebildeten Personen. Es scheint mir auch nicht, daß die Verfasser der alten Kirchenlieder solche Stellen aufnahmen, um sich auf diese Art an die Vorstellungsart und die Sprache des Landmanns anzuschließen, ihm verständlicher zu werden und seine Empfindungen lebendiger anzuregen. Was wir geschmacklos finden, erschien ihnen nicht so, das lag in ihrer Zeit, wo wahrhaft deutsche Bildung feinerer Art kaum vorhanden war, und die Gebildeten, insofern ihre Bildung nicht eine ausländische oder gelehrte war, in der Tat sich weniger vom Volke unterschieden als jetzt. Jene alten Kirchendichter, und namentlich Paul Gerhard, in welchen einzelne uns mißfällige Stellen nur unwesentliche Flecke sind, verstanden es weit besser, den Punkt zu finden, wo man dem Volke durchaus verständlich und seine Gefühle anregend ist, ohne sich in den Begriffen herabzustimmen und an ihrer Richtigkeit nachzulassen oder eine unedle Sprache anzunehmen. Diese wahre Volksmäßigkeit ist ein hauptsächliches Erfordernis guter und zweckmäßiger Kirchengesänge. Denn die Kirche ist für alle, es soll sich in ihr kein Kreis vornehmer oder höherer Bildung absondern; der wahrhaft Gebildete soll aber auch durch nichts ihn Verletzendes zurückgestoßen werden. Beides kann erreicht werden, ohne daß eines dem anderen Abbruch täte. Denn alles rein und natürlich Menschliche, frei von Künstelei und Gelehrsamkeit in Sachen der Erkenntnis und von Verzärtelung und Überspannung in Sachen des Gefühls, ist dem Volke und besonders dem Landmanne, dem ich hierin viel mehr zutraue als dem Städter, gewiß nicht bloß vollkommen verständlich, sondern auch seiner Emfindung zugänglich, und eben dies tief und echt Menschliche ist auch die Grundlage aller wahren Bildung. In diesen Ausgangspunkten des menschlichen Denkens und Empfindens begegnen sich, wenigstens in Deutschland, alle Klassen der Nation. Ebenso vereinigen sie sich in dem Verständnis einer einfachen, klaren und würdigen Sprache, wie man an Luthers Bibelübersetzung sieht, die sich nie zum Gemeinen herabläßt und – die Stellen ausgenommen, wo die Schwierigkeit in dem Sinne und den Sachen liegt. – zugleich allgemein verständlich ist. Sich recht nahe an die biblische Sprache zu halten, ist auch für Kirchengesänge der sicherste Weg, auch schwierigeren Ideenreihen in das Gemüt des Volks Eingang zu verschaffen. Wenn man, wie nicht selten geschieht, von einem Prediger mit Rühmen erwähnt, daß er für die gebildeten Klassen erhebend und belehrend predige, so halte ich das für ein sehr einseitiges Lob, und wenn er es nicht versteht, ebenso erbaulich für das Volk und den gemeinen Mann zu predigen, für einen wahren Tadel. Die Kirche umschließt alle, und die Religionswahrheiten werden ihrer Natur angemessener, allgemeiner und menschlicher aufgefaßt, wenn man sie auf allgemeine Verständlichkeit gründet. Die Scheidewand, die die gebildeten Stände vom Volke trennt, ist ohnehin schon zu groß; man muß daher mit doppelter Sorgfalt das hauptsächlichste Band erhalten, das sie noch zusammenknüpft. Leben Sie wohl und rechnen auf meine unwandelbare Teilnahme an allem, was Ihnen begegnet. Der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin