Tegel , den 14. April 1830.

Ich bin sehr besorgt um Sie gewesen, liebe Charlotte. Ihr längeres Stillschweigen hat mich diesmal nicht beunruhigt. Ich war gewiß, daß Sie nicht krank sein konnten. Ich habe Sie so bestimmt gebeten, mir in diesem Fall zu schreiben, daß ich gewiß darauf rechnen konnte, daß Sie es getan haben würden. Ich erriet aber die Ursache Ihres Nichtschreibens und sehe nun aus Ihrem Briefe, daß ich ganz richtig vermutet hatte. Es war eine zu natürliche, Ihrer Empfindungsart zu angemessene Empfindung, als daß sie nicht hätte in Ihnen aufsteigen sollen. Ihr jetziger Brief aber hat mir die größte Freude gemacht, besonders wegen der ruhigen Stimmung, die darin herrschend ist, und die ich, da sie Ihnen notwendig die wohltätigste sein muß, so sehr liebe, um deren Erhaltung ich Sie dringend bitte. Auch Lebenslust und Lebensfreude an den dem Leben bleibenden Genüssen kann erst auf dieser Grundlage im Gemüt emporsprießen. Die Ruhe ist die natürliche Stimmung eines wohlgeregelten, mit sich einigen Herzens. Äußere Ereignisse können sie bedrohen und das ruhigste Gemüt aus den Angeln heben. Ein großes weicht zwar auch da nicht, allein obgleich es Frauen gibt, welche diese Stärke mit der größten und lebendigsten Regsamkeit der Empfindung und der Einbildungskraft verbinden, so kann man das bewundern, aber nicht fordern. In einem Manne aber ist es Pflicht, es läßt sich verlangen, und er verliert gleich bei allen richtig Urteilenden an Achtung, wie hierin in ihm ein Mangel sichtbar wird. – – – –

Meine Gesundheit ist fortwährend gut. Sogar von kleinen Übeln bin ich frei. Das Alter erscheint mit den Jahren allmählich, aber mit einer Krankheit oder einem großen Unglücksfall, den nichts je wieder gut machen kann, plötzlich. Das letzte ist mein Fall gewesen. Hätte ich den Verlust nicht erlitten, den ich erfahren, so möchte es noch mehrere Jahre so fortgedauert haben. Aber durch die große Änderung, welche dieser Verlust in mir hervorbringen mußte, und die mit jedem Tage nur fühlbarer wird, bei der plötzlichen Vereinzelung nach einem achtunddreißigjährigen gemeinschaftlichen Leben, und selbst in der Abwesenheit ununterbrochenen gemeinschaftlichen Denken und Empfinden, war es natürlich, daß die Änderung auch körperlich eintrat. Indes ist das sehr leicht zu ertragen, zumal solange die Gesundheit so unangegriffen wie bei mir jetzt bleibt. Ich kann daher, wenn Sie auch nicht immer darin einstimmen, nur dabei bleiben, daß mir das Alter lieb ist. Es ist ein natürlicher menschlicher Zustand, dem Gott seine eigenen Gefühle geschenkt hat, die ihre eigenen Freuden in sich tragen. Wenn ich durch einen Zauberstab machen könnte, daß ich die mir noch übrigen Jahre mit jugendlicher Kraft und Frischheit verleben, oder so wie jetzt bleiben könnte, so wählte ich das erste gewiß nicht. Die jugendliche Kraft und Frischheit paßt nicht zu greifenden Gefühlen, und diese in einem langen Leben erworbenen und erlangten Gefühle möchte ich doch für nichts auf Erden aufgeben. Was Sie von meiner Stimmung sagen, unterschreibe ich insofern, als sie allerdings eine seltene und den tiefsten und gerührtesten Dank erheischende Gabe des Himmels, nicht menschliches Verdienst ist. Wenigstens rechne ich sie mir nicht zu. Ich verdanke sie größtenteils der, welche auch jetzt die unmittelbare Quelle derselben ist. Denn wenn man einem durchaus reinen und wahrhaft großen Charakter lange zur Seite steht, geht sie wie ein Hauch von ihm auf uns über. Ich würde mir selbst jenes Besitzes unwert erscheinen, wenn ich jetzt anders sein könnte, als innerlich in abgeschlossener Ruhe in der Erinnerung lebend, und äußerlich, wo sich die Gelegenheit darbietet, nützlich und wohltätig beschäftigt.


Ich wünsche, daß meine Briefe Sie ruhig, heiter stimmen, Ihnen wie eine Erholung, eine Erquickung erscheinen. Leben Sie herzlich wohl und rechnen Sie mit vertrauender Zuversicht auf meine ununterbrochene freundschaftliche Teilnahme. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin