Tegel , den 12. September 1824.

Ich bin seit einigen Tagen aus Schlesien wieder hierher zurückgekommen, liebe Charlotte, und eine meiner ersten Beschäftigungen ist, Ihnen zu schreiben. Meinen letzten Brief aus Ottmachau werden Sie bereits empfangen haben. Der Herbst verspricht sehr schön zu werden, und ich habe mich darum doppelt gefreut, wieder hier zu sein, die letzten Monate der scheidenden besseren Jahreszeit zu genießen. Ich liebe bei weitem mehr das Ausgehen als das Beginnen des Jahres. Man blickt dann auf so manches, das man getan oder erlebt hat, zurück, man meint sich sicherer, weil der Raum kleiner ist, in dem noch Unfälle begegnen können. Alles das ist freilich eine Täuschung, ein Augenblick reicht hin zu dem größten. Aber so vieles im Leben, im Glück und im Unglück sogar, ist ja nichts als Täuschung, und so kann man auch dieser stillere Momente verdanken. Ich bin zwar von Besorgnissen für mich sehr frei, nicht gerade, weil ich mich weniger Unfällen ausgesetzt glaubte, oder weil ich mich vor nichts Menschlichem fürchte, sondern schon früh das Gefühl in mir genährt habe, daß man immer vorbereitet sein muß, jedes, wie das Schicksal es gibt, durchzumachen. Man kann sich aber doch nicht entschlagen, das Leben wie ein Gewässer zu betrachten, durch das man sein Schiff mehr oder minder glücklich durchbringt, und da ist es ein natürliches Gefühl, lieber den kürzeren als den längeren Raum vor sich zu haben. Diese Ansicht des Lebens, als eines Ganzen, als einer zu durchmessenden Arbeit, hat mir immer ein mächtiges Mittel geschienen, dem Tode mit Gleichmut entgegen zu gehen. Betrachtet man dagegen das Leben nur stückweise, strebt man nur, einen fröhlichen Tag dem andern beizugesellen, als könne das nun so in alle Ewigkeit fortgehen, so gibt es allerdings nichts Trostloseres, als an der Grenze zu stehen, wo der Faden auf einmal abgebrochen wird.

Das Laub der Bäume fängt schon an, die Buntfarbigkeit anzunehmen, die den Herbst so sehr ziert und gewissermaßen eine Entschädigung für die Frischheit des ersten Grüns ist. Der kleine Ort, den ich hier bewohne, ist vorzüglich gemacht, alle Reize zu zeigen, welche große, schöne und mannigfaltige Bäume durch alle wechselnden Jahreszeiten hindurch gewähren. Um das Haus herum stehen alte und breitschattige, und umziehen es mit einem grünen Fächer. Über das Feld gehen in mehreren Richtungen Alleen, in den Gärten und dem Weinberg stehen einzelne Fruchtbäume, im Park ist ein dichtes und dunkles Gebüsch, und der See ist vom Walde umkränzt, sowie auch alle Inseln darauf mit Bäumen und Büschen eingefaßt. Ich habe eine besondere Liebe zu den Bäumen und lasse nicht gern einen wegnehmen, nicht einmal gern verpflanzen. Es hat so etwas Trauriges, einen armen Baum von der Umgebung, in der er viele Jahre heimisch geworden war, in eine neue und in neuen Boden zu bringen, aus dem er nun, wie unwohl es ihm werden mag, nicht mehr herauskann, sondern langsam schmachtend sein Ausgehen erwarten muß. Überhaupt liegt in den Bäumen ein unglaublicher Charakter der Sehnsucht, wenn sie so fest und beschränkt im Boden stehen und sich mit den Wipfeln, so weit sie können, über die Grenzen der Wurzeln hinausbewegen. Ich kenne nichts in der Natur, was so gemacht wäre, Symbol der Sehnsucht zu sein. Im Grunde geht es dem Menschen mit aller scheinbaren Beweglichkeit aber nicht anders. Er ist, wie weit er herumschweifen möge, doch auch an eine Spanne des Raums gefesselt. Bisweilen kann er sie garnicht verlassen, und das ist oft der Fall der Frauen, derselbe kleine Fleck sieht seine Wiege und sein Grab; oder er entfernt sich, aber es zieht ihn Neigung und Bedürfnis immer von Zeit zu Zeit wieder zurück, oder er bleibt auch fortwährend entfernt, und seine Gedanken und Wünsche sind doch dem ursprünglichen Wohnsitz zugewendet.


Es freut mich, daß Sie, liebe Charlotte, in Ihrem Garten auch in einiger Art wenigstens einen ländlichen Aufenthalt genießen. Ich weiß, wie sehr Sie daran hängen und jede damit verbundene Freude zu schätzen wissen. Für meine Beschäftigungen ist mir das Herannahen des Spätherbstes und Winters sehr unangenehm. Meine Augen sind zwar durch den anhaltenden Gebrauch wirksamer Mittel um vieles besser, sie erfordern indes doch noch viel Schonung, und bei Licht greife ich sie nicht an. Damit zieht sich aber der Tag enge zusammen, und wenn man noch abrechnen muß, was das häusliche Leben, Besuche, Zerstreuungen mancher Art, endlich wirkliche Geschäfte wegnehmen, so bleibt wenig übrig. Und je länger ich fortfahre, ausschließlich meine Zeit den Studien und dem Nachdenken zu widmen, jemehr kann ich sagen, vertiefe ich mich darin und verliere Neigung und Geschmack an allem andern. Die Ereignisse der Welt haben auch nicht das mindeste Interesse für mich. Sie gehen an mir vorüber wie augenblickliche Erscheinungen, die weder dem Geist noch dem Gemüt etwas zu geben vermögen. Den Kreis meiner Bekanntschaften ziehe ich immer enger zusammen; die Männer, mit denen ich früher den anziehendsten Umgang hatte, sind gestorben, und ich habe es immer für Glücksfälle gehalten, die man benutzen, nicht aber Bedürfnisse, die man suchen muß, wenn sich ein solcher Umgang von selbst anknüpfte. Dagegen ist das Feld des Wissens und Forschens unermeßlich und bietet beständig neue Reize dar. Es füllt alle Stunden aus, und man sehnt sich, nur die Zahl dieser vervielfältigen zu können. Ich kann wohl sagen, daß ich in meinem Innern einzig darin lebe, oft Tage lang, ohne diesen Gegenständen mehr als flüchtige Gedanken zu entwenden. Naturwissenschaften haben mich nie angezogen. Es fehlte mir auch der auf die äußeren Gegenstände aufmerksam gerichtete Sinn. Von früh an hat mich das Altertum aber angezogen, und es ist auch eigentlich das, was mein wahres Studium ausmacht. Wo der Mensch noch seinem Entstehen näher war, zeigte sich mehr Größe, mehr Einfachheit, mehr Tiefe und Natur in seinen Gedanken und Gefühlen, wie in dem Ausdrucke, den er beiden lieh. Zu der vollen und reinen Ansicht davon kommt man freilich nur durch mühevolle und oft in mechanischer Beschäftigung zeitraubende Gelehrsamkeit; aber auch das hat seinen Reiz, oder wird wenigstens leicht überwunden, wenn man sich einmal an geduldiges Arbeiten gewöhnt hat. Zu den kraftvollsten, reinsten und schönsten Stimmen, die aus grauem Altertum zu uns herübergekommen sind, gehören die Bücher des Alten Testaments, und man kann es nie genug unserer Sprache verdanken, daß sie, auch in der Übersetzung, so wenig an Wahrheit und Stärke eingebüßt haben. Ich habe oft darüber mit Vergnügen nachgedacht, daß es nicht möglich wäre, etwas so Großes, Reiches und Mannigfaltiges zusammen zu bringen, als die Bibel, die Bücher des Alten und Neuen Testaments, enthalten. Wenn sie auch, wie bei uns, dem Volke gewöhnlich das einzige Buch ist, so hat dieses in ihr ein Ganzes menschlicher Geisteswerke, Geschichte, Dichtung und Philosophie, und alles dies so, daß es schwerlich eine Geistes- oder Gefühlsstimmung geben könnte, die nicht darin einen entsprechenden Anklang fände. Auch ist nur weniges so unverständlich, daß es nicht gemeinem, schlichtem Sinne zugänglich wäre. Der Kenntnisreichere dringt nur tiefer ein, aber keiner geht eigentlich unbefriedigt hinweg.

Ich bleibe diesen und den größten Teil des künftigen Monats hier, ehe ich nach Berlin ziehe, und auch dann bringe ich wohl nur einige Wochen dort zu. Sie können darauf für Ihre Briefe mit Sicherheit rechnen. Im November und Dezember werde ich zwar vermutlich wieder, wie im vorigen Herbst, eine Reise machen, die sich mit einem Aufenthalt von einigen Wochen in Burgörner schließen wird; allein es ist an sich noch nicht gewiß, noch weniger der Zeitpunkt, und ich schreibe es Ihnen vorher. Ich habe immer Neigung zum Bleiben am nämlichen Ort, und zum Aufsuchen eines andern, wie Gewicht und Gegengewicht, in mir. Doch ist das Reisen und der Wechsel des Aufenthalts meist Notwendigkeit, selten ursprüngliche Lust. Leben Sie wohl, liebe Charlotte. Mit den herzlichsten Gefühlen der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin