Tegel , den 12. Januar 1834.

Sie sagen in Ihrem letzten Brief, daß, wenn man auch gar kein anderes Buch haben dürfte, man mit Bibel und Gesangbuch leben könnte, über die Bibel teile ich ganz Ihre Meinung. Das Gesangbuch würde ich doch nur als eine Zugabe ansehen. Was so alles andere ersetzen soll, muß nicht von einzelnen bekannten, uns nahestehenden Verfassern herrühren, es muß aus fernen Jahrhunderten als die Stimme der ganzen Menschheit, in der sich immer zugleich die Stimme Gottes offenbart, zu uns herüberschallen. Darum könnte, wessen Gemüt kindlich und einfach genug ist, den Sinn früherer Jahrtausende zu fühlen, auch mit dem Homer getrost in die Einsamkeit gehen. Das ist das, was der Mensch nie genug an der Vorsehung bewundern und wofür er nie dankbar genug sein kann, daß sie die wahrhaft göttlichen Gedanken, die, auf denen unser innerstes Dasein ruht, bald im Geiste ganzer Völker und Zeiten, bald in einzelnen Menschen weckt und durchbrechen läßt. Von mir gestehe ich Ihnen, daß ich sehr leicht ohne alle Bücher leben könnte. Eine eigentliche Neigung zum Lesen habe ich garnicht, auch habe ich für ein langes Leben und so vielfache wissenschaftliche Beschäftigungen nur wenig gelesen. Eine Menge Bücher, die andere sehr früh gelesen, kenne ich nur dem Namen nach, und ich kann von Büchern umringt sein, auch wissen, daß neue darunter sind, ohne in eines hineinzusehen. Diese geringe Anziehungskraft aber haben die Bücher nicht erst spät, gleichsam aus einer Art Überdruß, für mich bekommen, es ist, auch wie ich sehr jung war, nicht anders gewesen. Ich habe darum doch sehr viel, Tage und Nächte, mit Büchern gelebt, allein immer mit dem Zweck, irgend etwas Bestimmtes zu lernen, aufzusuchen oder zu erforschen. Dies ab er ist durchaus verschieden von der in einigen Menschen sich bis zur Leidenschaft steigernden Lust, zu lesen. Diese Lust liegt in einer inneren Lebendigkeit, die ich nie so besessen habe, an einem Bedürfnis nach Ideenstoff, das aber freilich zugleich an ein Verlangen geknüpft ist, diesen Stoff von außen in bunter Mannigfaltigkeit zu bekommen, anstatt ihn in größerer Einförmigkeit aus seinem Innern zu schaffen. Indes ist diese Neigung darum nicht zu mißbilligen. Der Mangel an jener Strebsamkeit nach außen hin, das Hängen an einsamem Sinnen, das Versenken in sich selbst ist auch nicht immer reines Metall ohne Schlacken. Es entspringt oft aus Apathie, aus Hang zum Müßiggange, und ist oft mehr ein waches Träumen als ein fruchtbares Nachdenken. Es führt aber eine Süßigkeit mit sich, die ich sonst mit nichts vergleichen kann, man mag sich nun in Ideen verlieren oder Erinnerungen zurückrufen. Das erste ist leichter und müheloser als im Gespräch und im Schreiben, da man nur für sich denkt, also Mittelsätze überspringen und näher zum Ziel gelangen kann, ja, von niemand gedrängt, es nicht so scharf zu erreichen braucht. Wo aber die Wahrheit auf Gefühlen ruht, da vertrauen sich diese lieber der Verschlossenheit des eigenen Busens an. Darum sind alle religiösen Menschen der Einsamkeit leicht zugetan. Erinnerungen aber kleiden sich in ein so sanftes Dämmerlicht, daß die Zeit, die man in ihnen zum zweitenmal durchlebt, oft dadurch tiefer in die Seele eindringt, als ihr die Unruhe der Gegenwart es zu tun erlaubt, denn die Gegenwart ist immer mit der Zukunft gemischt, und die Erfindung in ihr ist von einer Seite noch dem Wechsel offen. Auch versetzt der Genuß wie der Schmerz in eine Spannung, die der ruhigen Betrachtung des Gegenstandes nicht günstig ist. Wenn nun dies Vergnügen am Nachhängen gewisser Gedanken, die einen gewohnten Reiz über das Gemüt ausüben, der unbestimmten Luft, den Blick in ein Buch zu werfen, gegenübertritt, so bleibt meine Wahl nicht lange unentschieden, und ich könnte sehr gut lange Zeit ohne alle Bücher zubringen.

Sie bemerkten, daß man sehr oft fragen hört: was ist Glück? Wenn man unter dem Worte Glück das meint, durch das man im Leben in der letzten tiefsten Empfindung glücklich oder unglücklich ist, nicht bloß darunter einzelne Glücksfälle versteht, so ist es recht schwer, das Glück zu definieren. Denn man kann sehr vielen und großen Kummer haben und sich doch dabei nicht unglücklich fühlen, vielmehr in diesem Kummer eine so erhebende Nahrung des Geistes und des Gemüts finden, daß man diese Empfindung mit keiner anderen vertauschen möchte. Dagegen kann man im Besitz recht vieler Ruhe und Genuß gewährender Dinge sein, gar keinen Kummer haben, und doch eine mit den Begriffen des Glücks ganz unverträgliche Leere in sich empfinden. Notwendig wird also zum Glück eine gehörige Beschäftigung des Geistes oder des Gefühls erfordert, allerdings verschieden nach jedes einzelnen Geistes- oder Empfindungsmaß, aber doch so, daß eines jeden Bedürfnis dadurch erfüllt werde. Die Natur dieser Beschäftigung oder vielmehr dieses inneren Interesses richtet sich aber dann nach der individuellen Bestimmung, die jeder seinem Leben gibt, oder vielmehr, die er schon in sich gelegt findet, und so liegt Glück oder Unglück in dem Gelingen oder Mißlingen des Erreichens dieser Bestimmung. Ich habe immer gefunden, daß weibliche Gemüter in dies Gefühl lieber und williger eingehen als Männer, und sich auf diese Weise ein stilles Glück in einer freudenlosen, ja oft kummervollen Lage bilden. Auch für das künftige Dasein ist diese Ansicht folgereich. Denn alles Erlangen eines anderen Zustandes kann sich doch nur auf einen bereits erfüllten gründen. Man kann nur erlangen, wozu man reif geworden ist, und es kann in der geistigen und Charakterentwicklung keinen Sprung geben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin