Tegel , den 11. August 1823.

Ich bin vorgestern nach Berlin und gestern hierher zurückgekommen und habe mich ungemein gefreut, ein Paket und Briefe von Ihnen, liebe Charlotte, hier zu finden. Nächstdem danke ich Ihnen recht herzlich für das neue Heft Ihrer Lebensbeschreibung, das Sie mir geschickt haben. Ich habe es, wie Sie selbst ermessen werden, in diesen ersten Tagen noch nicht lesen können, indes habe ich schon hier und da darin geblättert, und bin mit dem, was ich angetroffen, ausnehmend zufrieden, ich bin also im voraus überzeugt, daß ich es mit dem Ganzen sein werde. Was Sie in der Vorrede sagen, daß man bei einem solchen Aufzeichnen des Vergangenen sein Leben noch einmal lebt, ist sehr wahr, allein der Eindruck, den die Wirklichkeit, und derjenige, den die bloße Erinnerung macht, sind notwendig sehr voneinander verschieden.

Wo die Begebenheiten schmerzlich sind, ist die Wirklichkeit in ihrem schroffen und starren Wesen, und von der Ungewißheit dessen, was weiter erfolgen wird, begleitet, niederschlagend und zerreißend. Die Erinnerung dämpft diese Gefühle bis zur sanften Wehmut. Das Schmerzvolle ist nicht mehr ein einzelner, abgeschnitten dastehender Moment, sondern verschmelzt sich mit dem ganzen Leben, und erhält dadurch einen ungleich milderen Charakter. Und sehr wohltätig und heilsam ist dann gewiß ein solches rückwärts gehendes Vertiefen in die Vergangenheit, das zugleich ein Vertiefen in die mannigfachen Falten des eigenen Gemüts und Herzens ist. Wie gut man sich auch schon erkennen möge, so gewinnt das Bild, je öfter man es wieder zu zeichnen versucht, immer mehr Klarheit und Bestimmtheit, und wird auch wohl in einzelnen Zügen noch berichtigt und der Wahrheit nähergebracht. Die Furcht, daß Sie durch eine Selbstschilderung bei mir verlieren könnten, dürfen und können Sie eigentlich nicht haben. Sie brauchen auch darin nicht, liebe, gute Charlotte, sich an meine Nachsicht und milde Beurteilung zu wenden. Gerade ein so ausführliches, so das ganze Leben wie aus seiner ersten Knospe entfaltendes Verwahren bewahrt vor jedem Mißverständnis, jedem Irrtum, jeder falschen Beurteilung. Es kommt im Menschen, wie Sie auch gewiß denken, immer unendlich mehr auf das Wesen, als auf die einzelnen Handlungen an. Die gewöhnlichen Menschen richten allerdings nur die letzten, wie es auch die Gesetze tun. Aber die Macht, die die Herzen durchspäht, geht auf die Gesinnung, die Absicht, die ganze Beschaffenheit und Stimmung des Gemüts, und dasselbe tut auch die Geschichte. Jede zusammenhängende Erzählung aber, welche die Erfolge aus ihren Ursachen zu entwickeln strebt, ist Geschichte und bringt denselben Eindruck hervor, sie mögen Weltbegebenheiten oder die Schicksale eines einfachen Privatlebens zum Gegenstande haben. Überhaupt wünscht man ja nicht darum die Begebenheiten eines Menschenlebens zu übersehen, um sich gleichsam zum Richter darüber aufzuwerfen, am wenigsten ist ein solches Beurteilen je mir eigen. Die Anschauung eines interessanten Gemütszustandes, die Betrachtung seiner Ursachen und Folgen, zieht – ohne daß man nur daran denkt zu urteilen oder zu richten – das Gemüt des Beschauers an, wenn der Gegenstand ihm wert ist und seinen Anteil erweckt, ja, wenn das abgesondert werden könnte, so erblickt man in der einzelnen Gestalt die allgemeine, in dem einzelnen Menschen die Menschheit selbst. Dagegen bin ich überzeugt und habe es schon an den bisherigen Heften erfahren, daß Ihre Erzählung mir sehr oft, ohne daß Sie es wollen, ja, ohne daß Sie es nur ahnen werden, Veranlassung geben wird, die Meinung, die Sie mir vor einer langen Reihe von Jahren durch Ihren Anblick und Ihre Gespräche und nachher durch Briefe und Schilderungen einflößten, und aus der mein warmer, lebhafter und sich immer gleicher Anteil an Ihnen entsprang, zu bestätigen, mit neuen Beispielen zu belegen und selbst zu erweitern. Fahren Sie also ja, teure Charlotte, nur mutig und ohne einige Besorgnis, je mißverstanden zu werden, fort. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin