Tegel , den 1. Januar 1832.

Ich bin fortdauernd sehr wohl und kann auch weniger über Schwächlichkeit klagen als sonst. Das Seebad hat mir offenbar wohlgetan, nur mit dem Schreiben geht es gleich langsam und schlecht, und die Stumpfheit der Augen nimmt doch zu. –

Sie freuen sich, daß ich mich wieder heiter dem Leben zuwende, und da Sie liebevollen Anteil an mir nehmen, so können Sie sich allerdings meiner größeren Kräftigkeit freuen. Mit dem heiteren Zuwenden zum Leben aber ist es eine eigene Sache. Es ist wahr und nicht wahr zugleich. Ich hatte mich niemals vom Leben abgewendet, dies zu tun ist ganz gegen meine Gesinnung; solange man lebt, muß man das Leben erhalten, sich ihm nicht entfremden, sondern darin eingreifen, wie es die Kräfte und die Gelegenheit erlauben. Das Leben ist eine Pflicht, die man erfüllen muß; man ist allerdings in der Welt, um glücklich zu sein, aber der Gutgesinnte findet sein höchstes Glück in der Pflichterfüllung, und der Weise trauert nicht, wenn ihm auch kein anderes wird, als was er sich selbst zu schaffen imstande ist. In einem anderen Sinne aber dem Leben zugewendet habe ich mich nicht. Die Änderung, die das Gefühl größerer Kräftigkeit in mir hervorgebracht hat, ist die, daß es mich gemahnt hat, da ich das Vermögen in mir dazu besitze, noch allerlei zu vollenden, was ich im Sinn habe, eingedenk der Ungewißheit der mir dazu übrig bleibenden Zeit. Die Folge ist also gewesen, daß ich noch haushälterischer mit meiner Zeit umgehe und mich seit meiner Rückkehr von Norderney noch einsamer zurückgezogen habe, mich noch anhaltender mit mir selbst beschäftige, und mir alles andere noch gleichgültiger in Beziehung auf mich ist. Die Heiterkeit am gegenwärtigen Augenblicke kann mir nicht wieder werden, seitdem meinem Leben etwas fehlt, für das es keinen Ersatz gibt, aber die Beschäftigung mit der Vergangenheit gibt mir eine sich immer gleich klare und ruhige Heiterkeit. Das Leben recht eigentlich in seinen guten und bitteren Momenten durchzuempfinden und das Tiefste und Eigenste, was die Brust in sich schließt, seinen äußeren Einwirkungen entgegenzustellen, nannte ich oben eine Pflicht, und sie ist es gewiß, aber es wäre auch widersinnig, es nicht zu tun. Das Dasein des Menschen dauert gewiß über das Grab hinaus und hängt natürlich zusammen in seinen verschiedenen Epochen und Perioden. Es kommt also darauf an, die Gegenwart zu ergreifen und zu benutzen, um der Zukunft würdiger zuzureifen. Die Erde ist ein Prüfungs- und Bildungsort, eine Stufe zu Höherem und Besserem, man muß hier die Kraft gewinnen, das Oberirdische zu fassen. Denn auch die himmlische Seligkeit kann keine bloße Gabe sein und kein bloßes Geschenk, sie muß immer auf gewisse Weise gewonnen werden, und es gehört eine wohl erprüfte Seelenstimmung dazu, um ihrer durch den Genuß teilhaftig zu werden.


Es hat mich sehr geschmerzt, aus Ihrem Briefe zu ersehen, daß neue Trauerfälle Ihnen das Ende des Jahres trüben; es hat mir umsomehr leid getan, da Sie eben auf dem Wege waren, größere Heiterkeit zu gewinnen. Die Schicksale des Lebens gehen ihren Gang, scheinbar fühllos, fort. Ich habe in diesem Jahre drei sehr langjährige Freunde, einen, der älter als ich war, und zwei jüngere, verloren. Aber die Gewöhnlichkeit und Natürlichkeit dieser Fälle mildert den Schmerz nicht und wehrt nicht der Trauer. Die beklommene Brust fragt sich immer, warum, da so viele länger leben, der Dahingegangene gerade vorangehen mußte. Was Sie von Ihrer ersten Erzieherin sagen, hat mich sehr gefreut und gerührt. Jedes gutgesinnte Gemüt, geschweige denn zart und edel fühlende, bewahrt durch das ganze Leben willig gezollte Dankbarkeit für die Pfleger der Kindheit. Schon im Altertum ist das wahr und schön beschrieben. Die Behandlung der Kindheit fordert Geduld, Liebe und Hingebung, und diese Jahre hindurch ihr gewidmet zu sehen, berührt, wie auch übrigens der Mensch sein mag, die weichsten und zartesten Saiten des Busens. Dies Gefühl ist im ganzen sich immer gleich, der Unterschied beruht vorzüglich auf der Innigkeit des Empfindenden. Der Maßstab der Dankbarkeit ist aber der Grad der Liebe, den der, an den sie knüpft, in das Geschäft legte. Viele, die bei Kindern sind, tun ihre Pflicht, aber das Herz ist nicht dabei, das merkt das Kind gleich. Ich fühle recht, daß es das war, was Sie an der Verlorenen schätzten. Möge das neue Jahr Ihnen Heiterkeit und Freude bringen, Sie vor Verlusten in dem schon engen Kreise bewahren und über Ihre Stimmung, wie ernst sie auch manchmal sein möge, immer das freundliche Licht ausgießen, in dem man, wenn man auch das Leben nur als einen Weg zum Höheren anfleht, sich doch noch auch am Anblick des Weges erfreut. Erhalten Sie mir auch Ihr Wohlwollen, wie Ihnen meine unveränderliche und herzlichste Teilnahme immer gewidmet bleibt. Seien Sie auch nicht besorgt um mich, ich bin gerade so glücklich, wie ich jetzt lebe, und kann es nur so sein. Wenn mir die Einsamkeit und mein täglicher stiller Spaziergang bleibt, kann mir in den Äußerlichkeiten des Lebens viel Unglück begegnen, ohne daß es mein Inneres berührt. Leben Sie wohl! Der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin