Tegel , November bis 3. Dezember 1834.

Sie fragen mich nach Frau von Varnhagen, deren Briefe unter dem Namen Rahel von ihrem Manne herausgegeben sind. Ich habe sie allerdings viel gekannt, von der Zeit an, wo sie noch ein sehr junges Mädchen war, ein paar Jahre, ehe ich auf die Universität nach Göttingen ging. So oft ich seitdem in Berlin war, habe ich sie viel und regelmäßig gesehen. Auch als ich mich mit meiner Familie in Paris aufhielt, war sie mehrere Monate dort, und es fiel nicht leicht ein Tag aus, wo wir uns nicht gesehen hätten. Man suchte sie gern auf, nicht bloß, weil sie von sehr liebenswürdigem Charakter war, sondern weil man fast mit Gewißheit darauf rechnen konnte, nie von ihr zu gehen, ohne nicht etwas von ihr gehört zu haben und mit hinwegzunehmen, das Stoff zu weiterem ernsten, oft tiefen Nachdenken gab oder das Gefühl lebendig anregte. Sie war durchaus nicht, was man eine gelehrte Frau nennt, obgleich sie recht viel wußte. Sie verdankte ihre geistige Ausbildung ganz sich selbst. Man kann nicht einmal sagen, daß der Umgang mit geistvollen Männern irgend wesentlich dazu beitrug. Denn teils ward ihr dieser nicht früh, sondern erst als sie sich schon selbst die hauptsächlichsten, sie durch das Leben leitenden Ansichten aus ihrem Innern herausgebildet hatte, teils hatten alle ihre Gedanken und selbst die Form ihrer Empfindungen ein so unverkennbares Gepräge der Originalität an sich, daß es unmöglich war, dabei an irgend bedeutenden fremden Einfluß zu denken. Sie ging auch viel mit uninteressanten Menschen um. Dies entstand aus Zufälligkeiten ihrer äußeren Lage. Da sie aber eine große Lebendigkeit besaß und gern mit Menschen lebte, so vermied sie es auch weniger sorgfältig, als es sonst geistreiche Personen wohl zu tun pflegen. Es war ihr ein eigentliches Talent gleichsam angeboren, auch dem unbedeutend Scheinenden eine bessere und anziehende Seite abzugewinnen. Jede Individualität flößte ihr schon als solche ein gewisses Interesse ein, da sie sie zum Gegenstande ihrer Betrachtung machte, und sich auch wirklich in jeder eine bessere und anziehende Eigenschaft herausfinden läßt. Die Varnhagen ging von jedem Punkt des täglichen Lebens gern zu innerem, tieferem Nachdenken über, sie schöpfte selbst vorzugsweise gern ihren Stoff zu diesem aus der Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit. Überhaupt war Wahrheit ein auszeichnender Zug in ihrem intellektuellen und sittlichen Wesen. Sie kannte darin keine weichliche Selbstschonung, weder um sich etwaige Schuld zu verbergen oder sie zu verkleinern, noch um in Wunden, die ihr das Schicksal schlug, mit tiefer Selbstprüfung einzugehen. Sie überließ sich aber auch keinen Selbsttäuschungen, keinen trügerischen Hoffnungen, sondern suchte überall nur die reine und nackte Wahrheit auf, wenn sie auch noch so unerfreulich oder selbst bitter sein mochte.

Ich breche hier ab, da ich eben Ihren lieben Brief bekomme. Warum aber, liebe Charlotte, fahren Sie in aller Welt fort, den Zeitungen zu glauben und sich und, verzeihen Sie, auch mich zu ängstigen. Ich glaubte Sie eben beruhigt und sehe Sie leider schon wieder so sehr beunruhigt. Mein körperlicher Zustand ist, im ganzen genommen, in diesem Augenblicke sichtbar besser, und ich weiß von keiner besorglichen Kränklichkeit, so daß ich nicht glaube, daß ich je wieder Norderney noch irgendein anderes Bad besuchen werde. Sie sehen, wie falsch die Zeitungsnachrichten sind. Ich bin so glücklich, nichts von dem zu kennen, was man von mir schreibt. Sie erzeigen mir einen großen Gefallen, wenn Sie sich nicht wieder dadurch beunruhigen lassen. Ich bitte Sie recht herzlich darum! Mit inniger Teilnahme der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin