Januar 1835.

Die Varnhagen redet sehr viel von sich. Das kann man vielleicht am meisten und gerechtesten an ihr tadeln, obgleich diejenigen, die es lieben, daß sich fremde Individualität unverhohlen vor ihnen ausspricht, das Buch gerade darum gern haben. Sie erzählt aber mehr, setzt Gedanken auseinander, drückt Empfindungen aus, fällt aber seltener Urteile über andere, ihre Handlungen und Charaktereigenschaften. Wo sie es tut, kann ich aber weniger als in anderen ihrer Urteile mit ihr übereinstimmen. Sie war allerdings eine Jüdin und ging spät, wohl erst kurz vor ihrer Verheiratung, zum Christentum über. Ihr Mann, viel jünger als Sie, war, noch verheiratet mit ihr, Gesandter unseres Hofes in Karlsruhe und lebte nachher in Berlin, wo er noch jetzt ist. Er beschäftigt sich fast ausschließlich mit Literatur und wird mit Recht zu den bedeutendsten Schriftstellern der Zeit gerechnet. Er ist aber sehr kränklich, und so sehe ich ihn jetzt fast garnicht, so gern ich sonst viel mit ihm umgehen würde. Daß Sie Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau hätten, kann ich nicht nur im geringsten nicht finden, sondern ich bin überzeugt, daß das bloß unbegründete Einbildung ist. Zwei Personen können wohl allgemeine Eigenschaften, wie Treue, Wahrhaftigkeit, Freude am Nachdenken usw. miteinander gemein haben, jede dieser Eigenschaften stellt sich aber in jeder von beiden anders und wird dadurch in der Tat zu etwas Verschiedenem. Dies war im doppeltem Grade bei der Varnhagen der Fall. Denn man mag sie nun noch so sehr bewundern, oder im Gegenteil sie noch so tadelnswert finden, so muß man ihr immer zugestehen, daß sie durchaus und in allem originell war. Sie glich wirklich nur sich selbst, und ich glaube nicht, daß man jemand nennen kann, der ihr ähnlich gewesen wäre. Es ist das nicht gerade ein Lobspruch, mit dem man sie belegt, es ist nur der Ausdruck der einfachen Wahrheit; Sie werden es gewiß ebenso empfinden, wenn Sie mehr in den Briefen lesen. Es werden darin eine große Menge von Personen erwähnt, teils mit ganz ausgeschriebenen Namen, teils mit den Anfangsbuchstaben. Das Interesse wird nun natürlich durch die Kenntnisse dieser Personen noch sehr erhöht, es hängt aber eigentlich niemals davon ab, da immer schon allgemeines, Räsonnement oder Empfindung, an die Persönlichkeit geknüpft ist. Ein Vorwurf aber, den man der Verfasserin mit Recht machen kann, ist, einigen Personen mehr Lobsprüche zu erteilen, als auf die sie selbst billigerweise hätten Anspruch machen dürfen. Man kann das aber nicht Schmeichelei nennen, da es Leute waren, von denen sie in keiner Art etwas hatte, noch je etwas hoffen konnte. So irrig in solchen Fällen gewiß auch ihre Meinungen und Ansichten waren, so ist der doch noch so auffallende Irrtum sichtbare Wahrheit in ihr. Diese Menschen erschienen ihr wirklich so. Sie konnte sogar an sehr uninteressanten Menschen, wenigstens solchen, die es allen übrigen schienen, Gefallen finden. Es gelang ihrem Geist, ihnen irgendeine einzelne anziehende Seite abzugewinnen, und das Gefallen daran trug sich leicht auf die ganze Persönlichkeit über. Was Sie, liebe Charlotte, in Ihrem letzten Briefe über Selbstkenntnis und Selbsttäuschung sagen, hat mich sehr interessiert. Ich gestehe aber, daß ich Ihre Meinung nicht ganz teilen kann. Ich halte die Selbstkenntnis für schwierig und selten, die Selbsttäuschung dagegen für sehr leicht und gewöhnlich. Es mögen einzelne dahin gelangt sein, das Ziel zu erreichen, und so mache ich Ihnen nicht streitig, daß Sie mit Recht sich richtig und genau zu kennen glauben. Ich möchte aber nicht dasselbe mit gleicher Zuversicht behaupten. Auf den ersten Blick scheint es allerdings leichter, sich selbst als andere zu kennen, da man sich unmittelbar fühlt, von anderen aber nur Äußerungen wahrnimmt, von denen man erst auf den inneren Grund schließen muß, so daß man bei diesem zwiefachen Verfahren auch einem zwiefachen Irrtume ausgesetzt ist. Aber der Beurteilende ist und bleibt doch von dem Beurteilten getrennt und kann unter allen Umständen seine kalte Unparteilichkeit und ruhige Besonnenheit behalten. Er wird nicht notwendig von dem Gegenstande seiner Beurteilung bestochen oder hingerissen, oder auch gegen ihn eingenommen oder mißtrauisch gemacht. Bei der Selbstprüfung ist man allen diesen Gefahren ausgesetzt. Die beurteilende Kraft wird ewig von ihrem Gegenstande affiziert. Beide tragen einerlei Farbe und Stimmung an sich. Man ist bisweilen ebenso geneigt, sich Fehler anzudichten oder die wirklichen zu vergrößern, als das gerade Gegenteil zu tun. Man beurteilt sich auch ungleich in verschiedenen Momenten. Der oft eintretende Irrtum rührt auch garnicht immer von Mangel an Wahrheitsliebe oder aus Eigendünkel her, sondern entsteht auch bei den reinsten Absichten und dem redlichsten Willen; denn der Irrtum schleicht sich in die Ansicht und in das Gefühl selbst ein. Der Fall scheint mir also garnicht so einfach, daß, wie Sie sagen, die Verfälschung nur durch Eitelkeit zu befürchten wäre. Die Eitelkeit selbst aber ist von so vielfacher Art, daß vielleicht niemand ist, der es wagen möchte, sich ganz frei davon zu nennen. Man ist es von dieser oder jener, aber recht schwer von aller. Einzelne Handlungen und ihre Beweggründe lassen sich noch eher selbst beurteilen. Je mehr es aber auf eine Reihe von Handlungen und den ganzen Charakter ankommt, desto unsicherer wird das eigene Urteil. Darum sind Selbstbiographien nur dann wahrhaft lehrreich, wenn sie eine große Anzahl von Tatsachen enthalten. Die Selbstbetrachtungen können leicht irreführen.

Ihrem am 24. Januar abgegangenen lieben Brief habe ich die Freude zu danken, einmal wieder etwas von Ihnen in recht heiterer Stimmung Geschriebenes gelesen zu haben. Sie wissen, daß mich das schon aus herzlichem Anteil an Ihnen besonders freut, daß ich es aber auch außerdem gern habe und die Stimmung schöner finde, die das Fröhliche recht heiter und das Widrige besonnen und gefaßt aufnimmt. Wenigstens ist es auf jeden Fall eine mehr beglückende. Mögen dann die dem Januar folgenden Monate alle harmlos und friedlich an Ihnen vorübergehen, und keine schmerzlichen Erscheinungen Ihre schöne Stimmung stören. Erhalten Sie Ihre Heiterkeit! Leben Sie wohl! Mit unveränderlicher Teilnahme Ihr H.


Abgegangen den 2. Februar 1835.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin