Im Dezember 1827.

Wir stehen wieder am Schlusse eines Jahres. Der Monat, in dem das Jahr zu Ende geht, wir haben schon oft in unseren Briefen dabei verweilt, hat immer etwas zugleich Feierliches und Anregendes für mich. Man sagt sich wohl tausendmal, daß die Jahreseinteilungen etwas ganz Unbedeutendes und Unwesentliches sind, und in der Tat ginge die Zeit eben so leer und ebenso bewegt, wie sie jeder ergreift und wie sie jeder aufnimmt, hin, wenn man ganz vergäße, welche Woche, welcher Monat und welches Jahr es wäre. Allein diese trocken vernünftige Philosophie verliert sich doch im Leben, und wer nur irgend Empfindung in sich trägt, geht immer ganz anders vom 31. Dezember zum 1. Januar, als von zwei anderen aufeinander folgenden Tagen über. Es ist, als wenn der Mensch versucht, durch die Zeiteinteilungen der Flüchtigkeit der Zeit Einhalt zu tun, wenigstens ihren ununterbrochenen und ungeschiedenen Lauf zu unterbrechen. Sie selbst zwar geht immer fort, aber der Mensch fleht wie auf einer schmalen Grenze zwischen der Vergangenheit und Zukunft still, er sammelt sich, nimmt in seinen Gedanken den zuletzt verflossenen Zeitabschnitt zusammen und umspannt den nächstfolgenden mit neuen Vorsätzen, Entwürfen, Hoffnungen und Besorgnissen. Ich möchte die Veranlassungen, dies zu tun, nie aufgeben. So wenig man ihrer eigentlich bedarf, so willkommen ist es, gewahr zu werden, daß sie einen mahnen. Denn eine Mahnung liegt ganz eigentlich in der Zeit, sie straft mit der Unwiederbringlichkeit der Schritte, die sie einmal getan; sie drängt zugleich auf die Gegenwart mit der Ungewißheit der Zukunft, und zwischen dieser Unwiederbringlichkeit und Ungewißheit steht der Mensch beständig, immer mit dem Gefühl, das Versäumte nie zurückführen zu können und nicht vorauszusehen, ob es die Zukunft nachzuholen gestatten wird. Dann halte ich auch sehr viel auf das Charakteristische gewisser, ja jeder Epoche des Lebens. Jedes Jahrzehnt bringt seine Sitten, Gewohnheiten, Schicklichkeiten mit, jedes seine Genüsse und seine Entbehrungen, und die Weisheit ist nur, das nicht zu verwechseln, nicht in ein Alter überzutragen, was einem andern angehört.

Ich habe, wie Sie, liebe Charlotte, wissen, eine eigene Liebe für die sternhellen Winternächte, und es freut mich nicht allein, daß Sie auch diese Neigung, wie so viele andere mit mir teilen, sondern auch, daß Sie mir oft gesagt haben, daß ich Sie noch mehr dahin geführt, und Ihnen meine Anleitungen nützlich waren. Ja, es macht mir oft Freude zu denken, daß sich unsere Blicke wohl oft in einem Planeten oder anderen Gestirn begegnen in den tiefdunkeln, hellen, schönen Winternächten, die wir jetzt haben, da Sie, wie Sie mir wohl gesagt haben, aus Ihrer Wohnung einen freien weiten Horizont nach allen Seiten haben. Die Freude daran ruht wirklich bei mir mit aus Gewohnheit. In meiner Jugend, als ich zwanzig Jahre und darüber war, ging ich ganze Nächte hier, und wo ich war, auf den Straßen herum. Wenn ich dann so die Gestirne hinziehen und ihre Stellungen verändern sehe, fällt mir immer ein, daß es nur die Abteilungen der Zeit sind, von denen ich eben sprach, die uns an jene fernen Welten heften, durch die wir ihre gegenseitigen Stellungen zu Bestimmungspunkten in uns und für uns zu einer Epoche in ihrem Gange machen.


Das Versenken in diese Ferne, das Sichverlieren in dieser Menge der Weltkörper, die sich dem Auge selbst wie ein einziges Lichtmeer darstellen, macht mich ganz eigentlich glücklich und fesselt mich, daß ich mich stundenlang nicht davon losreißen kann. Ist der Jupiter eben sichtbar, suche ich ihn immer zuerst auf und erfreue mich an seinem hellen, milden, weißen Lichte; dann verfolge ich die so unendlich fernen Fixsterne und habe es gern, wenn das Auge zuletzt sich in dem für unser Auge ungeschiedenen Glanzschimmer der Milchstraße verliert. Selbst das bloße Schauen in die tiefe Nacht, wo gerade sternlose Räume sind, ist schön, zumal gerade jetzt, wo die mondlosen Nächte so ganz und unaussprechlich dunkel und finster sind, überhaupt ist es bewunderungswürdig, welchen Genuß der anhaltend verweilende Anblick ganz einfacher Gegenstände in der Natur macht. Gewiß haben auch Sie bisweilen am Wasser gesessen, bloß um die Blicke und die Gedanken darin recht zu versenken. Für mich ist es einer der belohnendsten Genüsse, und der kleinste Bach, der stillste Teich, der sonst unbedeutendste See reicht dazu hin. Es ist das reine, klare, unbewegte Element, das diese Kraft ausübt. Es ist mir immer sehr begreiflich gewesen, wie man sich einbilden konnte, daß Wassernixen den am Ufer Sitzenden herabzögen. Es zieht wirklich hinab, und es ist einem bisweilen dabei, als könnte man nur so niedersteigen, um da ewig zu ruhen, als müßte man es. Es ist in diesem Gefühl gar kein Unwille mit der Erde, kein Überdruß an dem, was sie bietet, es ist die reine Luft am feuchten Element. Es ist überhaupt ein Vorurteil, wenn man meint, daß das Vergnügen an der Natur gerade eine schöne Gegend erfordere. So unleugbar es ist, daß diese den Reiz unendlich erhöht, so ist der Genuß überhaupt nicht daran gebunden. Es sind die Naturgegenstände selbst, die, ohne auch für sich auf Schönheit Anspruch zu machen, das Gefühl anziehen und die Einbildungskraft beschäftigen. Die Natur gefällt, reißt an sich, begeistert, bloß weil sie Natur ist. Man erkennt in ihr eine unendliche Macht, größer und wirksamer als alle menschliche, und doch nicht furchtbar. Denn es ist, als strahlte einem jeder Naturgegenstand immer etwas Mildes und Wohltätiges entgegen. Denn der allgemeine Charakter der Natur ist Güte in der Größe. Wenn man auch wohl von schauderhaften Felsen, schrecklich schönen Gegenden spricht, so ist die Natur niemals furchtbar. Man wird bald mit der wildesten Felsenschlucht vertraut und heimisch in ihr, und empfindet, daß sie dem, der einsiedlerisch zu ihr flüchtet, gern Ruhe und Frieden beut.

Die gedrückte und schwermütige Stimmung, deren Sie erwähnen, tut mir sehr leid, und es rührt mich, wie unverkennbar sie durchscheint, daß Sie dabei so wenig und kurz verweilen, um sie mir zu entziehen. Ich weiß und fühle sehr wohl, daß in einem nicht sorgenfreien, eher sorgenvollen Leben unangenehme, verdrießliche Vorfälle widrige Störungen hervorbringen und der nach Ruhe schmachtenden und der Ruhe so innig bedürfenden Seele schmerzlich entgegentreten – aber es sind diese Stimmungen dennoch den Wolken zu vergleichen, die auch bald licht und hell, bald dicht und finster getürmt einherziehen. Es läßt sich auch da nicht immer sehen, woher sie kamen, wohin sie ziehen, aber die Sonne verscheucht sie. Die Sonne für das Gemüt ist der Wille. Allein, wenn dies sehr leidet, reicht er nicht aus. Wir bedürfen dann Glauben. Glaube kann uns allein über das kleinliche tägliche Leben und irdische Treiben erheben, der Seele eine Richtung aufs Höhere geben und auf Gegenstände und Ideen, die allein Wert und Wichtigkeit haben. Es gibt etwas, das Ihnen nicht fehlt, ja, das Ihnen, liebste Charlotte, innewohnt, das Sie auch gewiß höher achten als alles, was man äußerlich und innerlich Glück zu nennen pflegt. Es ist der Friede der Seele. Er wird nach Verschiedenheit der menschlichen Richtungen auf sehr verschiedenen Wegen gewonnen und erhalten. Der im äußeren Glück und selbst Glanz Lebende bedarf dieses Friedens ebensosehr als der mit Kummer und Sorgen Beladene. Aber er erlangt ihn schwerer. Denn jeder Friede ist ein einfaches Gefühl, das in verwickelten Verhältnissen schwerer gewonnen wird. Es beruht freilich auf Ruhe und Reinheit des Gewissens, damit allein aber ist es nicht errungen. Man muß sich zufrieden mit seinem Schicksale empfinden, sich mit Ruhe und Wahrheit sagen, daß man das Schicksal nicht anklagt, sondern wenn es glücklich ist, mit Demut, und wenn es unglücklich ist, mit Ergebung und mit wahrem Vertrauen in Gottes weise Führung empfängt. Da die schwerere, sorgenvollere Lage auch das Verdienst erhöht, sich ohne Klage zu finden und sich in ihr zu erhalten, oder aus ihr herauszuarbeiten, so gelangt man auf diesem Wege zur harmonischen Übereinstimmung mit dem Geschicke, wie es auch sein möge. Sie, liebe Charlotte, wissen und üben das alles selbst. Sie brauchen nur in sich und mit Vertrauen auf Ihre innere Kraft davon Gebrauch zu machen, und Sie werden gewiß die schwere und niederbeugende Stimmung, über die Sie jetzt klagen, überwinden, wenn sie nicht anders einen äußeren Grund hat, den ich nicht kenne, der aber freilich sehr einwirkend sein kann und von mancherlei Art. Wie sehr wünsche ich, daß alles, was Sie in Wahrheit oder in der Vorstellung drückt, im alten Jahr zurückbleibe und das neue heiter und froh beginne. Mit diesen herzlichen Wünschen Ihr H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin