Glogau , den 9. Mai 1826.

Meine Reise, liebe Charlotte, hat sich über meine Erwartung verzögert, ich bin aber nun auf der Rückreise nach Berlin und schreibe Ihnen von hier, da ich früher, als ich dachte, hier angekommen bin, und doch nicht weiter reisen mag, sondern hier übernachten will. Es ist sehr lange her, daß ich keinen Brief von Ihnen erhalten habe. Es war mir, so leid es mir tat, unmöglich, Ihnen einen Ort anzugeben, wo mich Ihre Briefe mit Gewißheit gefunden hätten. Mein Aufenthalt war wechselnd, und obgleich ich vierzehn Tage in Ottmachau war, sah ich auch das nicht voraus, sondern meine Geschäfte zogen sich nur so von einem Tage zum andern hin. Jetzt bitte ich Sie, liebe Charlotte, mir den 23. dieses Monats zu schreiben, da trifft mich der Brief gewiß in Berlin, wohin Sie wie gewöhnlich adressieren. Ich hoffe, daß alsdann nicht wieder eine solche Unterbrechung unseres Briefwechsels stattfinden soll, da ich immer sehr ungern Ihre Briefe und Nachrichten entbehre. Ich fürchte, daß Ihnen das kalte und unfreundliche Wetter Übelbefinden zugezogen hat. Es war hier wenigstens – ich meine in Schlesien – sehr rauh und garnicht der Jahreszeit gemäß. Aus Berlin höre ich dieselben Klagen, aber seit drei, vier Tagen hat es sich geändert, und heute war ein warmer, schöner Sonnenschein, der mich von früh bis Abend im Fahren begleitet hat. Himmel und Erde boten einen sonderbaren Kontrast dar. Die Luft war ruhig, der Himmel blau, nur mit leichten Wolken hie und da bedeckt, die Sonne selten, nur auf Augenblicke, versteckt. Dagegen hatte die Erde keinen so friedlichen Anblick. Ich mußte auf einer Fähre über die Oder gehen, und mein Weg führte mich auch stundenlang an dem Ufer des Stromes hin, den ich erst hier verlassen habe. Vorgestern und gestern war der Fluß ungewöhnlich gediegen, große Felder waren überschwemmt, Dörfer wurden ausgeräumt, die Menschen waren überall in Bewegung, der Flut zu wehren, die Dämme zu erhöhen und Vorkehrungen aller Art zu treffen. Menschen konnte nicht leicht ein Unglück begegnen, da die weite Wasserfläche, außer in der Strömung selbst, ruhig und still war. Es sah wunderbar aus, wie das Gebüsch aus dem Wasser hervorblickte. Seit dem Jahr 1813 hat man keine so große Flut hier gehabt. Die unfreundliche kalte Jahreszeit hat vermutlich den Schnee in den hohen Gebirgen vermehrt, den die Wärme einiger darauf folgenden Tage zu schnellem Schmelzen brachte. So erklärt man sich wenigstens hier das schnelle unbegreifliche Anschwellen des Wassers. Die Zeitungen erwähnen diese Überschwemmungen gewiß, und Sie werden darin davon lesen. Es ist aber wohl möglich, fällt mir ein, wie ich dies schreibe, daß Sie, liebe Charlotte, keine Zeitungen lesen. Ich würde dies wenigstens sehr begreiflich finden, schon wenn ich Sie nach mir beurteile. Ich habe wirklich seit dem 29. März, wo ich Berlin verließ, keine Zeitung angesehen, wenn ich ein paar Blätter ausnehme, die mir zufällig in die Hand gefallen sind. Mein Leben kann innerlich und äußerlich recht gut fortgehen, ohne daß ich in Berührung mit dem bin, was man Weltbegebenheiten nennt. Wenn die wirklich großen sich ereignen, und die Kunde davon gewiß ist, erfährt man es, ohne die Zeitungen zu lesen, und alle kleinen aufzusammeln, oder die großen von ihrem Entstehen an zu verfolgen, oder dem Schwanken der Nachrichten über sie Monate lang nachzugehen, hat kein erhebliches Interesse für mich und ermüdet bald meine Geduld. Auch in den Weltbegebenheiten und den Ereignissen, die ganze Staaten erleben, bleibt doch immer das eigentlich Wichtige dasjenige, was sich auf die Tätigkeit, den Geist und die Empfindung einzelner bezieht. Der Mensch ist einmal überall der Mittelpunkt, und jeder Mensch bleibt doch am Ende allein, so daß nur, was in ihm war und aus ihm ausgeht, auf ihn Wichtigkeit ausübt. Wie der Mensch im Leben auf Erden mitempfindend, wirksam, teilnehmend, immer sich gesellig entwickelnd, ist, so macht er den größeren Weg, der über die Grenzen der Irdischkeit hinausreicht, doch allein, und keiner kann ihn da begleiten, wenn auch freilich in allen Menschen die Ahnung liegt, jenseits des Grabes die wiederzufinden, die vorangegangen sind, und die um sich zu versammeln, die nach uns übrig bleiben. Kein gefühlvoller Mensch kann dieser Ahnung, ja dieses sichern Glaubens entbehren, ohne einen großen Teil seines Glückes, und gerade den edelsten und reinsten, aufzugeben, und auch die heilige Schrift rechtfertigt ihn. Ja, man kann ihn in einigen Schriftstellen als eine ausgemachte und zu den trostreichen Lehren des Christentums wesentlich gehörende Wahrheit aufgestellt finden. Allein, das ändert an dem, was ich erst sagte, nichts ab. Ich meinte nämlich, daß hier auf Erden alles, was sich auf andere, und im ganzen auf künstlich eingerichtete Institute bezieht, doch nur insofern dem Menschen wahren Gewinn bringt, als es in den einzelnen eingeht. Alles Erhöhen der Bildung, alles Verbessern der Dinge und der Einrichtungen auf Erden, alle Vervollkommnung der Staaten und der ganzen Welt selbst besteht nur in der Idee, insofern es sich nicht im einzelnen Menschen ausspricht, und darum nehme ich in allen, auch den größten Weltbegebenheiten immer den einzelnen, seine Kraft zu denken, zu empfinden und zu handeln, heraus. Die Allgemeinheit der Begebenheit macht nur, daß sie zugleich auf viele so wirkt, oder durch ein solches Wirken vieler entsteht, und die Größe der Begebenheit, daß sie außerordentliche und ungewöhnliche Kräfte in Bewegung setzt oder zu Urhebern hat. Dadurch verknüpft sich denn auch das Privatleben mit dem öffentlichen. Was man in diesem an dem einzelnen Menschen bemerkt, findet sich auch, nur anders, durch andere Triebfedern in Bewegung gesetzt, zu anderen Handlungen anregend, in jenen. Es ist nur der Schauplatz, der sich ändert, das Schauspiel, der Gegenstand, an dem man sich erfreut, ist derselbe. Sieht man so die öffentlichen Ereignisse an, so gewinnen sie, wenigstens in meinen Augen, ein höheres und lebendigeres Interesse. So aber können die Zeitungen sie eigentlich garnicht oder nur höchst selten liefern. – Bei dem, was ich vorher von dem Wiederfinden nach dem Tode sagte, fällt mir ein rührender Vers ein, den ich vor einigen Tagen beim Spazierengehen auf einem Dorfkirchhofe fand. Eine Frau, die Mutter und Großmutter gewesen war, war mit ihren Kindern und Enkeln redend und für sie betend eingeführt, und das Gebet schloß mit den Worten: »Behüt sie, Gott, vor Ungemach, und bringe sie mir stille nach!« Dieser Ausdruck hat etwas ungemein Naives und Ergreifendes. Ich vermute, daß die beiden Verse schon in älteren Gesangbüchern vorkommen, die in der Regel schönere und kräftigere Lieder als die neueren haben, und so sind sie Ihnen vielleicht bekannt. Ich habe eine eigene Neigung zu Kirchhöfen und gehe nicht leicht an einem vorüber, ohne ihn zu besuchen. Vor allem liebe ich sie, wenn sie mit großen und alten Bäumen bepflanzt sind, auch nur einer oder der andere solcher Bäume darauf steht. Das grünende Leben verbindet sich so schön mit dem schlummernden Tode. Die schönsten Kirchhöfe sah ich in dieser Art in Königsberg in Preußen. Sie haben ganze Reihen der schönsten, größten und kräftigsten Linden. Ich brachte einen Teil des Jahres 1809 in Königsberg zu und versäumte nicht leicht einen schönen Sommernachmittag, auf einem dieser Kirchhöfe herumzugehen. In Rom liegt der der Fremden, die nicht katholisch sind, auch sehr schön und hat auch eine antike Pyramide (auch ein Grabmal), die zufällig da steht.

Wenn ich nach Berlin komme, bleibe ich nur kurze Zeit da und gehe dann nach Tegel, teils weil ich den Ort liebe und von dem umgeben bin, was ich liebe, teils der ungestörten Ruhe wegen, in der ich dort wieder arbeiten kann. Auf der Reise und bei wechselndem Aufenthalt tut man immer wenig und hat nur eine solche Geschäftigkeit, bei der man für den Geist eigentlich immer untätig ist.


Leben Sie wohl, liebe Charlotte, mit herzlicher Teilnahme und unveränderlicher Anhänglichkeit der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin