Den 16. Dezember 1828.

Es wird mich sehr freuen, eine Fortsetzung Ihrer Lebenserzählung zu bekommen. Sie wissen, daß ich auch an Ihrem vergangenen Leben einen warmen und innigen Anteil nehme, und daß außerdem schon jede recht individuelle Schilderung für mich einen hohen Reiz hat, der mich anzieht und verweilen läßt. Ich fühle aber sehr gut, daß eine solche Schilderung aufzusetzen und aus den Händen zu geben, eine große und schwer zu überwindende Schwierigkeit hat. Es kommen doch im Leben der Menschen immer Dinge vor, die gerade in den besten und feingesinntesten Gemütern eine gewisse Scheu, sie auszusprechen, hervorbringen. Ich meine damit garnicht solche, die man sich gleichsam zu gestehen scheute, weil man fürchtet, deshalb ungünstig beurteilt zu werden. O nein, es gibt Dinge, die garnicht dieser, sondern ganz entgegengesetzter Natur sind, und deren man sich eher rühmen könnte, die aberdoch ein gewisses Zartgefühl über die Lippen gehen zu lassen und gar durch die Feder dem Papier anzuvertrauen verbietet oder schwer macht. Es kommen auch Dinge vor, die andere in ein nachteiliges Licht stellen, und die man also, wie sehr es auch ihre Urheber verdient haben möchten, ungern ans Licht bringt. So wie man aber von dem Grundsatz abgeht, bei einer Lebenserzählung nur bloß und einfach die Erinnerungen seines Gedächtnisses abzuschreiben und gänzlich darauf Verzicht zu leisten, zu beurteilen, was wohl gesagt werden kann, und was verschwiegen oder verhüllt werden muß, so ist der Reiz einer wahren Naturschilderung dahin. Es ist nicht die einfache, nicht die vollständige, und mithin nicht die wahre Geschichte. Es ist keine Erzählung der Vergangenheit, sondern eine aus dem Standpunkt des späteren Lebens gemachte Beschreibung derselben. Man glaubt wohl, die moralische und geistige Wahrheit, um die es eigentlich zu tun sei, verliere nichts, wenn man zwar hier und da eine Tatsache nur halb oder allgemein erzählt, allein ganz treu und wahr die Wirkung schildert, die diese Tatsache auf die Empfindung und das Gemüt hervorgebracht habe. Wenn z. B. jemanden ein verletzendes Wort gesagt worden sei, so komme es nicht darauf an, dies selbst zu wiederholen. Man könne es vielmehr ganz füglich verschweigen, wenn man nur den Eindruck des Wortes auf den, der es hören mußte, beschreibt. Dies ist aber durchaus falsch. Denn es hört nun aller Maßstab der ganzen Szene auf, den der Art und dem Grade nach bloß das Wort selbst, einfach ausgesprochen, geben kann. Ich sage Ihnen das so ausführlich, weil ich mit Ihnen recht offenherzig und nicht bloß obenhin über die Fortsetzung Ihrer Lebenserzählung sprechen möchte. Ich kann Ihnen nicht raten, dieselbe weiter als zu dem Punkte fortzusetzen, wo Sie sicher sind, alles und jedes, wie es Ihnen Ihr Gedächtnis gibt, ohne die mindeste und leiseste Retizenz niederzuschreiben. Dies war in dem Teile, den Sie mir bis jetzt schickten, nicht nur möglich, sondern Ihnen nach Ihrem Charakter selbst leicht, und ich bin sicher, daß Sie in diesem so gehandelt haben. Sie konnten es, ohne irgendein eigenes oder fremdes Gefühl zu verletzen. Es ist möglich, daß dies auch ferner der Fall sei, allein ich kann mir auch sehr gut das Gegenteil denken. Dann würde ich es ganz natürlich finden, daß Sie den Schmerz der Erinnerung scheuen und vernarbte Wunden nicht aufreißen wollen; mir aber würde durch den Gedanken eines solchen mir gebrachten Opfers alle Freude genommen, die mir bisher durch den Empfang jedes Ihrer Hefte geworden. Wenn von Biographie die Rede ist, habe ich nun einmal den Begriff nur von historischer Wahrheit, von dem ich, bei dem großen und innigen Anteil, den ich an Ihnen nehme, auch mit dem besten Willen nicht abgehen könnte. An sich aber halte ich es für gut und heilsam, sein eigenes Leben so buchstäblich durchzugehen, und das Zartgefühl, das Retizenzen hervorbringt, für ein falsches, obgleich unendlich natürliches und daher verzeihliches. Indes mißtraue ich hier meinem eigenen Gefühle, da ich bei weitem mehr ein glückliches Leben, in einer ganz genügenden Lage, geführt habe; man könnte dann leicht dahin kommen, den unrichtigen Maßstab an andere zu legen, wovor ich mich immer gehütet habe. Noch einmal also, liebe Charlotte, wiederhole ich das schon oft Gesagte, folgen Sie Ihrem Gefühl; leidet dies nicht bei der Arbeit, so rechnen Sie immer mit Gewißheit darauf, daß Sie mir eine große Freude dadurch machen, aber nur auch unter der Bedingung, daß Sie ganz und ohne alle Retizenz wahr schreiben können. Sie können zu mir auch, wie man im Sprichwort sagt, wie in ein Grab sprechen. Ihre Hefte liegen wohlverwahrt in meinem Pult und können nach meinem Tode nur ins Feuer, ungelesen, gehen. In meiner Lage habe ich Gelegenheiten, dies zu veranstalten, die durch keinen Zufall irgendeiner Art vereitelt oder umgangen werden können. Ich halte es für Pflicht, Sie über diesen Punkt auch fest zu beruhigen, es ist schon Pflicht der Dankbarkeit für die vertrauensvolle, innige, rücksichtslose Hingabe, die Sie mir seit einer langen Reihe von Jahren bewiesen und offen gezeigt haben.

Das Jahr ist am Abscheiden, und wie ich gern verweile bei so viel schönen Genüssen, die es gewährte, worunter ich auch Ihr Wiedersehen rechne, so scheide ich nicht ohne sehr trübe Ahnung dessen, was das kommende bringen kann – und ich erkenne mit wehem Gefühl, daß es ähnlich in Ihrem Gemüte ist. Möge die Vorsehung von Ihnen, gute Charlotte, neue Prüfung abwenden! Das ist mein herzlicher Wunsch.


Seit unserer Rückkunft ist meine Frau bedeutend an mehreren zusammenkommenden Übeln krank; es ist wenigstens kein Zeitpunkt der Besserung mit Wahrscheinlichkeit vorauszusehen. Dies stört meine innere Lage in diesem Winter sehr.

Ich bitte Sie, mir den 30. d. M zu schreiben. Leben Sie recht wohl und rechnen Sie immer auf meine Ihnen bekannten Gesinnungen der Zuneigung und lebhaften Teilnahme. Ganz der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin