Burgörner , den 6. September 1825.

Es ist nahe an Mitternacht, da ich meinen Brief an Sie anfange, er kann aber, es ist heute Dienstag, erst am Freitag abgehen. Ich habe immer im Briefschreiben die Sitte, die ich aber nicht unbedingt loben will, mich im Schreiben nicht an die Posttage zu kehren, sondern meiner Neigung zu folgen. Bei vertraulichen Briefen, wie die unsrigen sind, ist das eigentlich nicht gut. Es ist natürlich, solche Briefe sobald als möglich in die Hände desjenigen zu wünschen, dem sie bestimmt sind. Aber mit andern Briefen, die Dinge betreffen, an denen das Gemüt keinen oder wenigen Teil nimmt, ist es nicht übel, sie einige Tage liegen zu lassen. Man kann dann noch vielleicht ändern.

Was Sie über den Einfluß des schnelleren oder langsameren Umlaufs des Bluts auf das Gemüt sagen, ist vollkommen wahr und darf bei Beurteilung anderer nicht aus der Acht gelassen werden. Indes ist es eine schöne Eigenschaft im Menschen, und ein ihm von dem Schöpfer ausschließlich vor den übrigen Erdengeschöpfen eingeräumter Vorzug, daß er immer fühlt, daß er durch den Gedanken und durch den Entschluß jeden körperlichen Einfluß, wie stark er sein möge, hemmen und beherrschen kann. Es sagt dem Menschen eine innere Stimme, daß er frei und unabhängig ist, sie rechnet ihm das Gute und das Böse an, und aus der Beurteilung seiner selbst, die immer stärker und strenger sein muß als die anderer, muß man jene ganz körperlichen Einflüsse völlig hinweglassen. Es sind zwei verschiedene Gebiete, das der Abhängigkeit und das der Freiheit, und durch den bloßen Verstand läßt sich der Streit beider nicht lösen. In der Welt der Erscheinungen sind alle Dinge dergestalt verkettet, daß man, wenn man alle Umstände bis auf die kleinsten und entferntesten immer genau wüßte, beweisen könnte, daß der Mensch in jedem Augenblick gezwungen war, so zu handeln, wie er gehandelt hat. Dabei hat er aber doch immer das Gefühl daß er, wollte er in das hemmende Rad greifen und sich von dieser ihn umstrickenden Verkettung losmachen, es vermöchte. In diesem Gefühl seiner Freiheit liegt seine Menschenwürde. Es ist aber auch das, wodurch er gleichsam aus einer andern Welt in diese eintritt. Denn im Irdischen allein kann nichts frei, und im Überirdischen nichts gebunden sein. Der Widerstreit ist nur dadurch zu lösen, daß es eine Herrschaft des ganzen Gebiets der Freiheit über das ganze Gebiet der Abhängigkeit gibt, die wir nur im einzelnen nicht begreifen können, die aber die Verkettung der Dinge vom Uranfange so leitet, daß sie den freien Beschlüssen des Willens entsprechen muß.


Wie ich mir Ihren körperlichen Zustand denke, liebe Charlotte, so hängt er auch sehr von der Seele ab. Suchen Sie daher vor allem sich zu erheitern und von allen Seiten zu beruhigen. Es ist dies freilich leichter zu sagen als zu tun, aber viel vermag es doch, wenn man sich nur alles, was einem besorglich scheint, recht klar macht und vollständig auseinandersetzt, und alles in sich zurückruft, worin man mit dem Geschick zufrieden sein oder es vielleicht sogar dankbar preisen kann. Gelingt es dem Geist, die Krankheit oder Kränklichkeit ganz aus sich zu entfernen und bloß in den Körper zu bannen, so ist unendlich viel gewonnen, und so erträgt sich danach körperliches Übel mit Fassung und wirklicher, nicht scheinbarer Ruhe, und erträgt sich nicht bloß, sondern hat sehr oft auch noch etwas die Seele schön und sanft Reinigendes. Ich selbst bin zwar mehrere Male, und ein paar Mal sehr gefährlich, krank gewesen, aber an dauernder Kränklichkeit, eigentlich schwacher Konstitution, habe ich nie gelitten. Ich bin aber oft mit Personen umgegangen, Männern und Frauen, in denen dieser Zustand der tägliche war, und die nicht einmal irgend wahrscheinliche Hoffnung hatten, sich je anders als durch den Tod herauszuwickeln. Zu diesen Menschen gehörte Schiller vorzüglich. Er litt sehr, litt dauernd, und wußte, wie auch eingetroffen ist, daß diese beständigen Leiden nach und nach seinen Tod herbeiführen würden. Von ihm aber konnte man wirklich sagen, daß er die Krankheit in dem Körper verschlossen hielt. Denn zu welcher Stunde man zu ihm kommen, wie man ihn antreffen mochte, so war sein Geist ruhig und heiter, und aufgelegt zu freundschaftlicher Mitteilung und interessantem und selbst tiefem Gespräch. Er pflegte sogar wohl zu sagen, daß man besser bei einem gewissen, doch freilich nicht zu angreifenden Übel arbeite, und ich habe ihn in solchen, wirklich sehr unerfreulichen Zuständen Gedichte und prosaische Aufsätze machend gefunden, denen man diesen Ursprung gewiß nicht ansah.

Wenn sich Schwäche mit Wallung des Blutes, Unruhe oder gar Beängstigung vereinigt, und dies Leiden mehrere Jahre dauert, so begreife ich freilich wohl, daß es Überdruß am Leben überhaupt hervorbringen kann, diesem aber sollte man doch mit allen Kräften immer entgegen arbeiten. Ich will nicht einmal darauf zurückgehen, daß dies offenbar sogar gebotene Religionspflicht ist, aber das Leben ist schon, selbst wenn es am längsten währt, gegen die unendliche Zeit, wo man wenigstens keinen Begriff im voraus von der Art des Daseins hat, so kurz, daß man nicht mit seinen Wünschen die Schranken noch näher rücken, sondern sich vielmehr, so gut es irgend gehen will, darin betten muß, und gewiß ist es fast noch wichtiger, wie der Mensch das Schicksal nimmt, als wie sein Schicksal ist. Es ist eine sprichwörtliche Redensart, daß jeder sich das seinige schafft, und man pflegt das so zu nehmen, daß er es sich durch Vernunft oder Unvernunft gut oder schlecht bereitet. Man kann es aber auch so verstehen, daß, wie er es aus den Händen der Vorsehung empfängt, er sich so hinein paßt, daß es ihm doch wohl darin wird, wieviel Mängel es darbieten möge.

Erhalten Sie mir Ihr liebevolles Andenken und seien Sie des meinigen unbezweifelt gewiß. Meine Gedanken begleiten Sie öfter, als Sie es wohl denken. Der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin