Burgörner , den 29. November 1823.

Ich befinde mich hier sehr wohl. Es ist nicht bloß für diese Jahreszeit und den sonst oft so schlimmen Monat, sondern wirklich an sich immer leidliches und oft sehr gutes Wetter. Heute war es wirklich schön, und die Sonne kam sehr freundlich heran. Zwar erhob sie sich nur wenig über eine dichte und finstere Wolke, die den Abendhimmel bedeckte, aber der übrige Teil des Himmels war vollkommen blau. Da ich teils viele Geschäfte hier habe, teils die Zeit zu eigenen Arbeiten benutzen will, so ist es mir sehr lieb, ganz allein hier zu sein, ich bin so gar keiner Störung ausgesetzt und liebe an sich die Einsamkeit. Die Freude, mit den Meinigen zu sein, ist mir nur immer eine unendlich glückliche Zugabe zu meinem schon glücklichen Leben. Ich habe mir aber nie denken können, wie dasjenige eigentlich ein Glück zu heißen verdient, was eine Lücke ausfüllt, die einem Unglück nahe kommt, und es hat mir immer geschienen, als ginge der wahrhaft edle und hohe Glücksgenuß erst an, wenn man, sich selbst genügend im Gleichgewicht, seine Neigungen und Empfindungen mit sich verknüpft, die diesen, schon in sich befriedigenden Zustand dergestalt erhöhen, daß er, damit verglichen, wirklich mangelhaft erscheint. Heftige Begierden und leidenschaftliche Äußerungen sind mir daher immer fremd geblieben. Indes will ich das nicht eben loben noch in Schutz nehmen. Es könnte leicht auch in einem Mangel an Feuer liegen, dessen der Mann zu vielen der wichtigsten und ernsthaftesten Dinge bedarf, es ist auch nicht jene Fremdheit immer in gleichem Grade in mir gewesen. Jetzt ist sie meinen Jahren freilich natürlich. Die Jugend muß im Manne immer zuerst in der wirklich nur jugendlichen Lebendigkeit des Empfindens und dem, was leidenschaftlich ist, erlöschen; zum Entschluß und zur Anstrengung kann dann ihre Kraft noch lange ausdauern. – Nun komme ich zu dem letzten Heft Ihrer Lebenserzählung zurück. Es hat mir wieder ungemein viel Freude gemacht, und ich habe es gestern abend ohne Unterbrechung hintereinander gelesen. Es schadet garnicht, wenn auch einiges, was Sie darin erzählen, in eine andere Periode gehört, wie Sie besorgen. Es ist unmöglich, in der Erinnerung so genau in der Zeitfolge zu bleiben, ich würde sehr verlegen sein, sollte ich von einem meiner Kinderjahre so ausführlich erzählen. Es ist merkwürdig, daß Ihnen so viel in der Erinnerung geblieben ist. Da in diesem Hefte gerade so viel vom Schreiben die Rede ist, so kann ich Ihnen mit Wahrheit sagen, daß diese Erzählung wieder ganz diesen Vorzug hat. Alles darin ist trefflich gedacht und empfunden, das ist das erste darin, und wie Sie selbst richtig bemerken, das unerläßliche Erfordernis jedes guten Schreibens; allein auch das letzte ist bei Ihnen damit verbunden. Die Art Ihrer Entwickelung hat mich ungemein interessiert. Sie bemerken sehr richtig, daß das, was Ihnen mehr durch Sie selbst, und zufällig durch Umgang mit Erwachsenen, an Unterricht zukam, gerade darum so stark und so dauernd wirkte, weil es wenig war, und in ein auf besseren und reichhaltigeren Unterricht begieriges Gemüt fiel, so möchte ich auch im übrigen weiter schließen. Es sollte mich aber nicht wundern, wenn doch gerade diese Erziehung mehr oder kräftiger beigetragen hätte, Sie so, wie Sie geworden sind, zu bilden, als wenn alles fein systematisch dabei ausgedacht worden wäre. Man muß sich die Erziehung ja nicht bloß und immer als eine direkte Leitung zu verständiger Haltung, gutem Charakter und hinlänglichem Reichtum von Kenntnissen denken. Sie wirkt oft weit mehr als ein Zusammenfluß von Umständen, deren beabsichtigte Wirkung ganz vereitelt wird, die aber durch den Streit gegen die Individualität des zu Erziehenden in ihm bewirkt, was die direkte Einwirkung nie vermocht hätte. Denn das Resultat der Erziehung hängt ganz und gar von der Kraft ab, mit der der Mensch sich auf Veranlassung oder durch den Einfluß derselben selbst bearbeitet. Mit großem Vergnügen habe ich auch bestätigt gefunden, daß dasjenige, was Ihr Gemüt und Ihren Verstand noch jetzt auszeichnet, Ihnen auch in der Kindheit schon beiwohnte. Es ist immer meine Meinung gewesen, daß sich der Mensch, wenn man das Wesentliche seines Charakters nimmt, nicht eigentlich ändert. Er legt Fehler ab, vertauscht auch wohl Tugenden und gute Gewohnheiten gegen schlechte, allein seine Art zu sein, ob mehr nach der Außenwelt, oder mehr nach innen gekehrt, ob heftig oder sanft, ob in die Tiefe der Ideen eingehend, oder auf der Oberfläche verweilend, ob mit kühnerem und fettem Entschluß ins Leben eingreifend, oder Schwäche verratend, bleibt gewiß von der Kindheit bis in den Tod die nämliche. Das war für heute vorerst das Wichtigste, was ich Ihnen über dies Heft sagen wollte. Auf ein und anderes komme ich ein anderes Mal zurück. Immer aber wiederhole ich Ihnen aufs neue meinen herzlichen Dank für die Mühe, die Sie mir so liebevoll widmen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin