Burgörner , den 18. August 1825.

Ich bin seit einigen Tagen hier und habe mich schon sehr an dem Gefühle erfreut, das den Aufenthalt in der Provinz und in einer Gegend, wo man ganz und gar von größern Städten entfernt ist, begleitet. Ich finde mich immer sehr leicht darein und habe daran ein vorzügliches Gefallen. Es wandelt mich auch nicht die leiseste Neugierde an, und ich kann sehr gut selbst die Zeitungen entbehren. Ich pflege alsdann auch meine Beschäftigungen fast ganz einförmig einzurichten und so viel als möglich bei einem Ideengange zu bleiben. Ich habe von jeher eine große Neigung gehabt, mich in eine Sache zu vertiefen, und habe oft Gelegenheit gehabt, die Vorteile und Nachteile davon an mir selbst zu erfahren. Denn daß diese Vorliebe für eine und dieselbe oft wiederholte Beschäftigung, dies Grübeln über eine Idee auch seine beschränkenden und daher schädlichen Eigenschaften hat, läßt sich nicht leugnen. Die Vertiefung bringt im Grunde dieselbe Wirkung hervor als die Zerstreuung, sie läßt vieles nicht bemerken, manches ungeschickt betreiben. Der Unterschied ist nur freilich, daß der zerstreute Mensch sich in nichts zersplittert, und nichts findet, noch besitzt, an dem er zu haften vermöchte, daß aber der Vertiefte immer eins hat, was ihn für die Vernachlässigung des übrigen entschädigt. Am nachteiligsten empfinde ich diesen Hang, sich einer Sache, die dann meistenteils eine innere Idee ist, hinzugeben dann, wenn ich mich in der freien Natur befinde. Ich liebe sie unendlich, und der Genuß oft selbst einer einfachen Gegend, geschweige denn einer schönen, hat für mich mehr Reiz als fast alles übrige sonst. Aber auch der Eindruck, den die Natur macht, schließt sich immer wieder an den mich innerlich beschäftigenden Gedanken an, und verwandelt sich selbst in eine allgemeine Empfindung; dagegen entgehen mir eine ganze Menge Einzelheiten. Ich würde nie zum Naturbeobachter darum getaugt haben, und hätte sicherlich mitten unter Pflanzen und Steinen sehr vieles unbemerkt vorübergehen lassen, was ich zu anderer Zeit mit Bedauern inne geworden sein würde. Indes möchte ich darum diesen Hang zur Vertiefung nicht fahren lassen und ihn nicht bloß nicht mit dem entgegengesetzten Extrem vertauschen, sondern mich nicht einmal gern mit der Mittelstraße zwischen beiden Extremen, die man sonst wohl als die weisere zu preisen pflegt, begnügen. Man lernt doch das, dem man sich so ganz, so ausschließend, so in fester Beharrlichkeit widmet, besser kennen, und je länger man dabei verweilt, desto mehr scheint an ihm in der Betrachtung hervorzutreten. Man kann in der Tat nicht sagen, daß die Dinge der Welt dasjenige, was an ihnen zu sehen ist, offen daliegen haben. Der eine sieht, was dem andern entgeht, und es ist, als wenn der Blick, wenn er durch gehörige Vertiefung geschärft wird, erst selbst den Gegenstand erschlösse. Die einfachsten Sachen können darum denjenigen, der einmal diesen Hang hat, sehr lange Zeit, und nicht auf eine leere, nutzlose Weise beschäftigen. Vorzüglich finde ich immer, geht bei dieser anhaltenden Betrachtung, wenn sie nicht bloße Gedanken, sondern Gegenstände der Welt betrifft, dasjenige auf, was die Zeit an ihnen gearbeitet hat, die Spur der Vergangenheit in der Gegenwart, ja oft auch die leise Ahnung der Zukunft, welcher die Gegenwart entgegengeht. Darin liegt auch einer der höchsten Reize. Denn alles, was das Laufen und das ununterbrochene Fließen der Zeit versinnlicht, zieht den Menschen unendlich und unnennbar an. Sehr natürlich, da er selbst das Geschöpf der Zeit ist, da seine Schicksale auf ihr wie auf einem immer wogenden Meere schweben, da er nie weiß, ob er sich der Gegenwart sicher vertrauen darf, und ob nicht eine trügerische Zukunft seiner wartet. Das tiefere Eindringen in die Gegenstände, das man dem Hange zur Vertiefung dankt, wäre aber noch der mindeste Vorteil. Denn Sie könnten mir vielleicht mit Recht einwenden, daß es gar wenig Dinge gibt, die ein solches Eindringen verdienen. Das viel Wichtigere dabei ist der Gewinn, den der Geist in sich, aus diesem Sichsammeln auf einen Punkt, aus dieser Genügsamkeit mit wenigen Gegenständen, auf die er sich vereinzelt, zieht. Es entspringt notwendig daraus eine größere geistige Innigkeit, eine höhere Wärme, eine Liebe, mit der man das umfaßt, mit dem man sich gleichsam allein in der Welt fühlt. Dadurch wird auf den Charakter selbst gewirkt, oder vielmehr, da nichts Äußeres hinzutritt, sondern dieser Hang aus dem Charakter selbst hervorgeht, so entwickelt sich der Charakter dadurch und bildet sich zu einer höheren Würde und gehaltvolleren Schönheit aus. Denn es gibt Ideen, mit denen er gleichsam zusammengewachsen ist, die er nie aufgeben möchte, die ihn wie beständige Leiter, Freunde, Tröster begleiten, und diese Ideen, die so zu ihm treten, sind gerade immer die eigentümlichsten, diejenigen, die ein anderer oft garnicht, oft erst nach Jahren, verstehen und begreifen kann, was garnicht darin liegt, daß sie ihm, wie man es auszudrücken pflegt, zu hoch, zu verwickelt wären, sondern nur darin, daß sie so unzertrennbar mit einem andern Individuum verbunden sind. In Ideen dieser Gattung würde ich nie von dem Allerkleinsten, ohne vollkommene Änderung meiner früheren Überzeugung, zurückgehen; es kann nichts geben, was für dies Zurückgehen Entschädigung gewährte, und welches Opfer auch einer solchen zu tiefer Überzeugung gewordenen Idee gebracht werden müßte, so kann es nie, gegen sie selbst gehalten, zu groß sein. Die Festigkeit aber, die darin sich ausspricht, ist keine eigensinnige, sie entsteht nicht einmal allein aus Verstandesüberlegung. Denn ob sie gleich an sich freilich, wie die Überzeugung, von demjenigen, was von dieser Festigkeit begleitet ist, aus dem Verstande entspringt, so gesellt sich nun in einem Gemüte, das den Hang besitzt, eine Idee und einen sich mit ihr verbindenden Gegenstand ganz und gewissermaßen ausschließend zu umfassen, dazu Wärme, Empfindung und eigentliche Liebe. Das ganze Leben wird durch diese Stimmung innerlicher, und wo sie recht einheimisch geworden ist, dauert sie, wie ich in verschiedenen Perioden meines Lebens erfahren habe, auch in derselben Innerlichkeit mitten unter großen äußeren Bewegungen fort. Sie macht alsdann denjenigen, welcher sie besitzt, von allen Äußerlichkeiten unabhängig, überhaupt wird durch dieselbe das Bedürfnis, sich gerade mit einem äußeren Gegenstande zu verbinden, vermindert. Denn die Liebe, welche die bloße innere Idee erweckt, vertritt schon dessen Stelle. Wo aber etwas Äußeres mit der Idee zusammentrifft, da ist nun auch die Wirkung doppelt stark und dauernd. Die Ideen, welche so durch das Leben begleiten, sind auch natürlich zugleich dann die, welche am besten vorbereiten, das Leben auch entbehren zu können. Denn da das Leben vorzüglich nur durch sie Wert hat, sie aber fest mit den tiefsten Kräften des Gemüts und der Seele vereinigt sind, so kann ich mir wenigstens nicht denken, wie nicht mit ihnen gerade auch das Eigenste, was man besitzt, mit einem hinübergehen sollte. Es ist wohl zu hoffen und mit Vertrauen zu erwarten, daß sie klarer, heller, und in neuer vielfacherer Anwendung den Geist umgeben werden. –

Recht herzlich habe ich mich gefreut, in Ihrem Briefe zu erkennen und ausgedrückt zu finden, daß Sie wieder ruhig und heiter werden und aufs neue erkannt haben, daß ich nur beides zu befördern wünsche. Gewiß habe ich nur diese wohlwollenden Gesinnungen für Sie gehabt, wie ich vor einigen Jahren den Briefwechsel mit Ihnen wieder anfing. Ich glaube mir in meinen Gesinnungen stets gleich geblieben zu sein, und Sie können gewiß ferner darauf rechnen. Die Grundsätze, nach denen ich handle, stammen weder aus Eigensinn, noch sind sie eben so wenig auf eigene Wünsche berechnet. Sehr gefreut hat es mich auch, das volle feste Vertrauen, wie sonst bei Ihnen, zu diesen Ihnen mit liebevollem Anteil geweihten Gesinnungen gefunden zu haben. Halten Sie dies unverbrüchlich fest, liebste Charlotte, und nie wird etwas Störendes in unserem Verhältnis entstehen.


Daß Sie der Konsequenz gram und feind sind, wenn sie nichts als Eigensinn ist, und nur diesen edleren Namen annimmt, darin haben Sie ganz recht. Es ist dies dann nur eine tadelnswerte Scheinheiligkeit. Doch muß man nicht alles Eigensinn nennen, wovon man die Gründe nicht einsieht, oder was auf solchen Gründen beruht, für die man, wenn man sie auch kennt, keinen Sinn hat. Das wäre wieder auf der andern Seite und in einem andern Extreme gefehlt. Noch weniger könnte es Konsequenz genannt werden, wenn man bei Meinungen beharren wollte, die man selbst abgeändert hätte und nicht mehr, wie ehemals, für wahr hält; das wäre nichts als Rechthaberei, oder die Schwäche, nicht vor andern bekennen zu wollen, daß man früher unrecht gehabt hat. Wenn man das selbst fühlt, muß man auch keine Schwierigkeit darin finden, es vor andern einzugestehen. Ich halte garnichts davon, in seinen Grundsätzen, Meinungen und Empfindungen so ein für alle Mal abgeschlossen zu sein und zu denken, daß das nun alles darum so recht wäre, weil man es so lange dafür gehalten hat. Ich prüfe vielmehr immer alles aufs neue und würde es keinen Augenblick Hehl haben, wenn auch das, woran ich sehr gehangen hätte, mir plötzlich anders erschiene. Ich würde dann nicht nur selbst meine vorige Meinung ablegen, sondern es auch ohne allen Anstand bekennen. Gerade aber, wenn man so gestimmt ist, begegnet einem dies bei andern viel weniger, denn man ist dann an sich dem Nachdenken geneigt, und die Grundsätze und Meinungen, die man hat, gründen sich dann auch auf das Nachdenken, solche aber vertauscht man nicht leicht mit andern, wenn man auch sich neuen Prüfungen noch so offen erhält. Sie sagen, daß Sie in den letzten Wochen zu sehr ernsthaftem Nachdenken über sich geführt worden sind und Ihre Blicke sehr in die Tiefe Ihres Innern gerichtet haben. Sie werden dann dabei erfahren haben, wie wohltätig es ist. Mir kehrt aus solchen Selbstbetrachtungen, die ich für die höchste und beste Beschäftigung halte, alle Mal eine große und nicht leicht wieder zu zerstörende Heiterkeit zurück. Man findet entweder, daß der Zustand des Gemüts von der Art ist, wie man nur wünschen kann ihn zu erhalten, und hat nichts nötig gehabt, als ihn nur besser zu entwirren, mehr Licht und Klarheit in ihm zu genießen – und das ist gewiß der Fall bei Ihnen – oder man muß sich selbst anklagen und unzufrieden mit sich sein; dann ändert man seinen Sinn, nötigt das Gemüt zu dem, was es aus Irrtum, oder Schwäche, oder sonst einer Verkehrtheit versagte, und genießt gerade wieder in dem Gefühl, sich auf den rechten Weg zurückgebracht zu haben, einer neuen und nun wahrhaft befestigten Heiterkeit. Leben Sie herzlich wohl, bleiben Sie ruhig und heiter, und rechnen Sie auf die Gleichheit und Unveränderlichkeit meiner Gesinnungen. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin