Berlin , den 31. Januar 1825.

Sie werden sich wundern, liebe Charlotte, schon vor der Zeit, wo Sie gewohnt sind, meine Briefe zu erwarten, einen von mir zu empfangen. Aber ich bin krank, habe ziemlich starkes Schnupfenfieber und Zahnweh, und beides hindert mich am Arbeiten. Da suche ich gern im Briefwechsei, und am liebsten in dem mit Ihnen, eine ruhig-erheiternde und die Seele stimmende Beschäftigung. Ich gehöre zu den geduldigsten Kranken, ja ich kann mich oft nicht entschließen, das Kranksein ein Übel zu nennen. Sie werden sagen, daß das nur beweist, daß ich nie oder selten ernsthaft krank war, und darin haben Sie ganz recht. Aber es gibt genug Leute, die auch schon bei kleinen Übeln und bloß belästigenden Unpäßlichkeiten klagen. Mir bringt das Kranksein immer eine gewisse Ruhe und Sanftheit in die Seele. Es ist nicht, daß ich gesund sehr das Gegenteil wäre. Aber das gesunde Streben hat, vorzüglich im Manne, doch einen Eifer und eine Lebendigkeit, die immer mehr oder weniger anspannen. Das fällt in Krankheit weg, man fühlt seine Tätigkeit; gelähmt und erwartet, bis es besser geht, keine Erfolge. Übrigens beunruhigen Sie sich ja nicht über mein Unwohlsein. Es ist durchaus unbedeutend und geht gewiß in wenig Tagen vorüber. Es ist bloß die Folge einer Erkältung, der ich nicht vermeiden konnte mich auszusetzen; ich fühlte gleich auf der Stelle das Entstehen des Übels. Meine Augen – Sie denken oft liebevoll daran – haben sich sehr gebessert. Ich leide garnicht in diesem Winter daran. Ich schreibe es doch der großen Schonung und selbst den lateinischen Buchstaben zu. Für Ihren letzten Brief habe ich Ihnen schon meinen herzlichsten Dank gesagt; ich habe ihn seitdem oft wieder gelesen, jedes Wort darin macht mir große und herzliche Freude, für die ich Ihnen schon im Stillen viel gedankt habe! Es ist Ihnen eine seltene und natürliche Gabe eigen, Ihre Empfindungen einfach und wahr auszudrücken, darin liegt die große Wirkung, die Ihre Worte haben. Ich wünschte immer, ja ich wußte, daß, wenn Sie mich erst näher kennen lernten, sich die Überzeugung mehr und mehr in Ihnen befestigen werde, wie herzlich mein Anteil an Ihnen und wie unwandelbar meine Gesinnungen gegen Sie sind. Dies hoffe ich jetzt erreicht zu haben. Es ist mir auch eine Angelegenheit, es Ihnen bestimmt zu sagen. Beim Schluß des Jahres drängen sich ganz natürlich die Empfindungen zusammen für diejenigen, die uns besonders wert sind, und wir fassen Sie enger zusammen. Ich halte überhaupt sehr viel auf die Zeitabschnitte auch im gewöhnlichen Leben, und der Anfang einer neuen Epoche ist mir kein gewöhnlicher Tag. Ich passe alles, was ich tue, genau in die Zeit ein, und lasse sie über mich herrschen.

Daß die Zeit hingehe und geistig erfüllt werde, ist das Große und Wichtige im Menschenleben. Durchdringt man sich recht von dieser Idee, so wird man gegen Glück und Unglück, gegen Freude und Schmerz sehr gleichgültig. Was sind Glück und Unglück, Freude und Schmerz anders, als ein Hinfliegen der Zeit, von der nichts übrig bleibt, als was sich davon geistig gesammelt hat? Die Zeit ist das Wichtige im menschlichen Leben; denn was ist die Freude nach dem Verfliegen der Zeit? und das Tröstliche, denn der Schmerz ist ebenso nichts nach ihrem Verfließen, sie ist das Gleis, in dem wir der letzten Zeit entgegenwallen, die dann zum Unbegreiflichen führt. Mit diesem Fortschreiten verbindet sich eine reifende Kraft, und sie reift mehr und wohltätiger, wenn man auf sie achtet, ihr gehorcht, sie nicht verschwendet, sie als das größte Endliche ansieht, in der alles Endliche sich wieder auflöst.


Ihre Tätigkeit achte ich sehr hoch, sie macht Ihnen viel Ehre und belohnt sich in der selbständigen Unabhängigkeit, die Sie sich nach großen und ehrenvollen Verlusten wieder geschaffen haben. Darum interessiert mich auch alles aufs höchste, was Sie mir über Ihre schon an sich interessante Beschäftigung sagen.

Ich liebe überall die Arbeitsamkeit, sie ist mir besonders an Frauen sehr schätzenswert. Diejenigen Arbeiten, welche Frauen vorzunehmen pflegen, haben noch das Einladende und Reizende, daß sie erlauben, dabei viel mehr in Empfindungen und Ideen zu leben. Ich leite daher die wirklich feinere und schönere, oft selbst tiefere Bildung her, welche auch solche Frauen, die keine vorzügliche Erziehung genossen haben, meistenteils vor den Männern voraushaben, welchen sie sonst in Kenntnissen nachstehen. Zum Teil freilich rührt aber eben daher auch die bei Frauen häufigere Schwermut und Verletzbarkeit. Wie die Seele mehr, öfter, tiefer und abgeschiedener in sich gekehrt ist, so berührt alles Äußere sie rauher. Indes ist das ein leicht zu verschmerzender Nachteil. Es hat immer einen unendlichen Nutzen, sich so zu gewöhnen, daß man sich selbst zu einem beständigen Gegenstand seines Nachdenkens macht. Man kann zwar auch, und mit gleicher Wahrheit, sagen, daß der Mensch wieder gerade sich garnicht kennt, oder doch wenigstens nie recht. Beides ist wahr. Er weiß nämlich von niemanden so viel, er kennt bei niemanden so den geheimen Zusammenhang des Denkens und Wollens, die Entstehungsart jeder Neigung und jedes Entschlusses, und in dieser Art kennt er nur sich. Aber auf der andern Seite kann er, wie er es auch wollen möge, nie unparteiisch gegen sich sein; denn der, den er beurteilt, mit dem beurteilt er auch. Er ist also in Einseitigkeit befangen, und ich habe daher nichts lieber, als wenn die, mit denen ich lebe, mich auf das Allerfreieste und ohne allen Rückhalt beurteilen; man wird dadurch belehrt, man hört etwas, das man sich selbst so nun einmal nicht sagt, und auf irgend eine Weise, wenn es nicht mit Absicht verdreht wird, hat es doch Grund. – Leben Sie jetzt recht herzlich wohl, und lassen Sie sich, ich wiederhole es, durch meine Unpäßlichkeit nicht beunruhigen. Ganz mit den alten und sich nie ändernden Gesinnungen.

Ihr Humboldt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin