Berlin , den 27. Dezember 1822.

Ich setze mich mit inniger Freude an den Tisch, Ihre beiden Briefe zu beantworten, die mir, wie alles, was mir von ihnen kommt, sehr teuer gewesen sind. Es tut mir sehr leid, daß mein längeres Schweigen Sie einen Augenblick beunruhigt hat, ob ich gleich diesem Umstande einen Brief mehr von Ihnen verdanke. Sie müssen aber nie unruhig sein, wenn ich einmal länger nicht schreibe, als Sie gerade gedacht haben, daß ich es tun würde. Ich bin so selten krank, daß dies garnicht in Berechnung kommen kann, und eine Änderung in meinen Gesinnungen, wie leise sie auch sein möchte, ist in der Tat unmöglich. Es widerspricht meinem Charakter überhaupt, und widerspricht noch viel mehr meinen einmal für Sie gefaßten Empfindungen, und kann mit einem Worte nicht eintreten. Daß ich aber einmal weniger oft schreibe, hat ganz zufällige Ursachen, die ich aber auch nicht gut ändern kann. Ob ich gleich jetzt gar keine eigentlichen Geschäfte habe, so bin ich beschäftigter als die meisten, die selbst viel mit solchen beladen sind, und ich lebe keineswegs so, wie manche andre, daß ich nur auf irgend eine Weise dem Vergnügen oder meinen Einfällen nachhänge. Meine Stunden vom Morgen bis zum Abend, und vor 1 Uhr gehe ich nie zu Bette, sind regelmäßig besetzt; mit meiner Familie bringe ich nur etwa zwei Stunden am Abend, außer dem Mittagessen, zu. In Gesellschaft gehe ich so gut als garnicht, und in meiner Stube, in der ich also die meiste Zeit meines Lebens zubringe, bin ich mit Papieren und Büchern umringt. Ich führe, seit ich den Dienst verlassen habe, ein eigentliches Gelehrten-Leben, habe weitläufige, wissenschaftliche Untersuchungen unternommen, und so kommt es denn freilich, daß der Briefwechsel manchmal stockt, der mit Ihnen aber doch am wenigsten. Denn ich wundere mich selbst manchmal, wie ich Ihnen so oft und so lange Briefe schreibe, und dann finde ich es doch wieder so natürlich, weil ich mich so gern in meinen Gedanken vor Ihnen gehen lasse, und meine Briefe wieder Veranlassung der Ihrigen sind, die ich so innig gern lese, wie lang sie sein möchten. Denn zum Lesen habe ich immer Zeit, da dazu der Entschluß nicht wie zum Schreiben zu nehmen ist, sondern mit dem erscheinenden Briefe natürlich da ist, so schiebt sich alles andre so lange zur Seite. Auch das Denken gehört jeder Stunde an, nur zum Schreiben kommt man nicht immer, und ich könnte mir darin einen Zwang antun. Ich klagte mich zum voraus bei Ihnen an, liebe Charlotte, daß ich eigentlich nicht ordentlich und regelmäßig im Schreiben bin, und Sie sehen jetzt, daß ich nicht unwahr redete.

Daß Sie erfreut und zufrieden sind mit den kurzen Nachrichten, die ich Ihnen über meine Familie gab, ist mir lieb, ob sie hinzusetzen, »wenn ich sie auch ausführlicher gewünscht hätte, bin ich doch erfreut und etwas bekannt mit den Ihrigen und bescheide mich«. – Das ist ganz in Ihrer Art, und wenn ich Sie darum lobe, so muß ich darüber schmälen, daß Sie besorgen, ob Sie sich nicht zu sehr haben gehen lassen in dem Ausdruck Ihrer Empfindungen? Sie haben in Ihrer Selbstbiographie nur für mich geschrieben. Sie haben mir die ersten Empfindungen Ihrer jugendlichen Brust aufrichtig, edel und offen gestanden, Sie haben mir diese Gefühle durch ein ganzes Leben gesondert, bewahrt, und mein Andenken heilig erhalten, ohne irgendein Zeichen des meinigen empfangen zu haben. Ihr ganzer Besitz waren ein paar Zeilen auf einem Zettel Papier. Das würde jeden Mann gerührt haben. Wer aber so etwas zu würdigen versteht, wie ich das von mir sagen darf, der wird es wie ein seltenes Glück dankbar empfangen und wie eine Zugabe des Himmels ansehen. Nicht der leiseste, nur scheinbar gerechte Vorwurf könnte Sie treffen, und die kälteste, ruhigste Beurteilung könnte hier nichts zu tadeln finden. Sie sehen, ich will mir nicht wieder entreißen lassen, was Sie mir einst freiwillig gegeben haben. Ich will es behalten, und keine kleinlichen Skrupel von Ihrer Seite sollen mir meinen lieben Besitz rauben. Irre ich, so irrt wenigstens mein Herz nicht. Ich habe nicht die engherzigen Begriffe über solche Empfindungspflichten, die wohl sonst im Schwange sind. Wenn man in sich rein ist, kein Gefühl mit dem andern vermengt, keine Pflicht verletzt, so habe ich für mich (ich will nie für das Gewissen eines andern reden) kein Arges, mich jedem Gefühl, das wahr und unentstellt in mir aussteigt, ohne alle Ängstlichkeit hinzugeben. So ist es in mir. Sie sehen, was ich Ihnen oben sagte, ich will behalten, was ich habe.


Von meinem Familienleben hätte ich Ihnen, wenn Sie es nicht ausdrücklich gefordert hätten, und es mir nicht natürlich geschienen, doch auch das Innere und gerade dasjenige Verhältnis zu berühren, von dem in einem Familienkreise alle anderen Empfindungen ausgehen, immer geschwiegen.

Also noch einmal, ich will, liebe Charlotte, daß Sie nicht eine einzige Zeile, nicht ein Wort zurückwünschen. Alles, was Sie mir geschrieben haben, woraus Ihre Gefühle so rein und wahr hervorstrahlen, beglückt mich in der Erinnerung. Ich wünsche vor allem, daß der Briefwechsel mit mir Ihnen reine, durch nichts getrübte Freude mache. Ich habe ja dabei keinen andern Zweck, als für mich Erinnerungen festzuhalten, die mir ewig teuer sein werden, und für Sie, Ihnen eben dadurch Freude zu geben.

Daß ich Ihnen jene Nachrichten so spät gab, darf Sie nicht wundern, ich gab sie nur, weil Sie es wollten. An sich ist es meine Art nicht, von dem, was ich für einen Menschen fühle, einem andern als ihm selbst zu sprechen, ja, es ist mir ganz entgegen. Ich weiß wohl, daß man es so gemeinhin für ein Zeichen und ein Bedürfnis der Freundschaft hält, sich gegenseitig Freude und Kummer und alles mitzuteilen, den andern, wie man es nennt, mit sich leben zu lassen. Ich könnte tiefen Kummer und große Freude im Herzen haben, und es würde mich nie drängen, es denen mitzuteilen, die ich am liebsten habe. Ich tue es auch wirklich nicht, wenn die Mitteilung nicht andere Veranlassung hat. Ich halte sehr wenig von den Ereignissen des Lebens und für mich (Gott weiß, nicht für andere) wenig von Glück und Unglück, beide, auf mich bezogen, sind die letzten Rücksichten bei meinem Tun und Handlungen; ich weiß, Gottlob! mit denen, die ich so gern habe, als Sie, immer noch etwas Besseres zu reden, als was eben um mich herum vorgeht. Ich mache es gerade so mit meiner Frau und Kindern. Sie wissen von sehr vielem, was mich beschäftigt, garnicht, und meine Frau denkt so gleichgestimmt mit mir darüber, daß, wenn sie zufällig etwas erfährt, was sie nicht wußte, oder ich ihr selbst bei einer Veranlassung davon sagte, es ihr nicht einfällt, das sonderbar zu finden. Freundschaft und Liebe bedürfen des Vertrauens, des tiefsten und eigentlichsten, aber bei großartigen Seelen nie der Vertraulichkeiten.

Leben Sie herzlich wohl! Mit unveränderlichen Gesinnungen der Ihrige. H.

Das Geheimnis des Glücks in der Liebe
ISBN: 978-3-939198-38-3
Preis: 9,90 €
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin