Berlin , den 25. April 1823.

Ich wollte mich eben hinsetzen, liebe Charlotte, Ihren lieben Brief vom 9. dieses zu beantworten, als ich zu meiner großen Freude den vom 20. bekam. Ich glaubte schon, Sie wollten, ehe Sie mir schrieben, erst eine Antwort von mir abwarten. Ich freue mich sehr, Sie nicht in dem Hause zu wissen, vor dessen unlieblichen Bewohnern Sie mit Recht einen so großen Abscheu hatten. Sie haben bei Ihrem neuen Etablissement wenigstens an Ruhe und Einsamkeit gewonnen. Ich begreife indes vollkommen Ihren Widerwillen vor der Stadt. Wäre ich nicht meiner Kinder wegen hier, die einmal ihrer Verhältnisse wegen die Stadt, zumal im Winter, nicht verlassen können, so würde ich immerfort auf dem Lande bleiben. Selbst, wo die Gegend nicht reizend wäre, bleibt der Anblick des freien Himmels schon viel. Der Anblick des Himmels hat überhaupt unter allen Umständen einen unendlichen Reiz für mich, bei sternenhellen, wie bei dunklen Nächten, bei heiterm Blau, wie bei ziehenden Wolken, oder dem traurigen Grau, worin sich das Auge verliert, ohne etwas darin zu unterscheiden. Jeder dieser Zustände entspricht einer eigenen Stimmung im Menschen, und wenn man das Glück hat, diese Stimmung nicht gerade von den Elementen empfangen zu müssen, nicht düster zu werden mit dem düsteren Himmel, sondern in der aus dem reinen Innern entsprungenen Stimmung, durch den Anblick des Himmels nur in andere und andere Betrachtungen versenkt zu werden, so hat man wenigstens kein Mißfallen am farblosen Himmel, wenn man auch dem ruhig und mild strahlenden natürlich den Vorzug gibt. Mir ist überhaupt das Klagen über Wetter fremd, und ich kann es an andern nicht sonderlich leiden. Ich sehe die Natur gern als eine Macht an, an der man die reinste Freude hat, wenn man ruhig mit allen ihren Entwicklungen fortlebt, und die Summe aller als ein Ganzes betrachtet, indem es nicht gerade darauf ankommt, ob jedes Einzelne erfreulich sei, wenn nur der Kreislauf vollendet wird. Das Leben mit der Natur auf dem Lande hat vorzüglich darin seinen Reiz für mich, daß man die Teile des Jahres vor seinen Augen abrollen sieht. Mit dem Leben ist es nicht anders, und es scheint mir daher immer aufs mindeste eine müßige Frage, welches Alter, ob Jugend oder Reife, oder sonst einen Abschnitt man vorziehen möchte. Es ist immer nur eine Selbsttäuschung, wenn man sich einbildet, daß man wahrhaft wünschen könnte, in Einem zu bleiben. Der Reiz der Jugend besteht gerade im heiteren und unbefangenen Hineinstreben in das Leben, und er wäre dahin, wenn es einem je deutlich würde, daß dies Streben nie um eine Stufe weiter führt, etwa wie das Treten der Leute, die in einem Rade eine Last in die Höhe heben. Mit dem Alter ist es nicht anders, es ist im Grunde, wo es schön und kräftig empfunden wird, nicht anderes, als ein Hinaussehen aus dem Leben, ein Steigen des Gefühls, daß man die Dinge verlassen wird, ohne sie zu entbehren, indem man doch zugleich sie liebt und mit Heiterkeit auf sie hinblickt, und mit Anteil in Gedanken bei ihnen verweilt. Selbst ohne auch religiöse Gedanken an den Anblick des Himmels zu knüpfen, hat es etwas unbeschreiblich Bewegendes, sich in der Unendlichkeit des Luftraums zu verlieren, und benimmt so auf einmal alle kleinlichen Sorgen und Begehrungen des Lebens, und der Wirklichkeit ihre sonst leicht einengende Wichtigkeit. So sehr auch der Mensch für den Menschen das Erste und Wichtigste ist, so gibt es gerade nichts gegenseitig mehr Beschränkendes, als die Menschen, wenn sie, enge zusammengedrängt, nur sich vor Augen haben. Man muß erst oft wieder in der Natur ein höheres und über der Menschheit waltendes Wesen erkennen und fühlen, ehe man zu den beschränkten Menschen zurückkehrt. Nur dadurch auch gelangt man dahin, die Dinge der Wirklichkeit nicht so wichtig zu halten, nicht so viel auf Glück oder Unglück zu geben, Entbehrung und Schmerz minder zu achten, und nur auf die innere Stimmung, die Verwandlungen des Geistes und Gemüts seine Aufmerksamkeit zu richten, und das äußere Leben bis auf einen gewissen Grad in sich untergehen zu lassen. Der Gedanke des Todes hat dann nichts, was abschrecken oder ungewöhnlich bekümmern könnte, man beschäftigt sich vielmehr gern mit ihm, und sieht das Ausscheiden aus dem Leben, was ihm auch immer folgen möge, als eine natürliche Entwicklungsstufe in der Folge des Daseins an. Ich komme zum Teil mit deshalb auf diese Betrachtungen, weil ich eben die Zugabe zu Ihrem zweiten Heft gelesen habe, für die ich Ihnen herzlich danke und deren Inhalt damit enge zusammenhängt. Es ist schwer zu bestimmen, was man über die Tatsachen, denn als solche muß man Selbsterfahrenes ansehen, sagen soll.

Daß eine geliebte Person im Augenblick ihres Abscheidens, oder auch nachher, den Elementen und der Sinnenwelt die Kraft abgewinnt, zu erscheinen, läßt sich zwar auch nicht weiter begreiflich machen, allein die menschliche Seele empfindet doch selbst Dinge in sich, welche die Möglichkeit, wenn auch nur in einem Schleier, durchblicken lassen. Wer je Sehnsucht in sich getragen hat, begreift, daß sie eine Stärke gewinnen kann, die von selbst die gewöhnlichen Schranken der Natur durchbricht. Es mag aber auch bei dem, der etwas sehen soll, eine Empfänglichkeit notwendig sein, die Geistergegenwart zu vernehmen, und wir mögen manchmal von Geistern umgeben sein, ohne es zu wissen oder zu ahnen. Warum man weniger Geister sieht, weniger von Erscheinungen hört, läßt sich eher erklären. Unter den Geschichten von ehemals waren wohl viele falsch, nicht gerade erfundene, aber ununtersucht gebliebene, oder nicht verstandene, natürliche Ereignisse. Man hatte mehr Glauben überhaupt und auch an diese Dinge, man war mehr zur Furcht vordem Übernatürlichen geneigt; die Meinung von einem bösen Geist, der quäle und verführe, wurde sinnlicher und materieller genommen. Indes mag auch außerdem richtig sein, daß doch auch wahre Erzählungen, wirklich übernatürliche Wirkungen, wie die von Ihnen beobachtete, häufiger waren, und wenn das ist, ist die Erklärung freilich schwierig, zumal wo so eine Wirkung von mehreren sehr verschiedenartigen Menschen beobachtet wurde, wie es in Ihrem Hause der Fall war. Denn Erscheinungen und Gesichter einzelner würden sich eher erklären lassen. Ich sagte schon erst, daß eine gewisse Empfänglichkeit auch zur Wahrnehmung des Übersinnlichen gehöre. Diese mochten die Menschen in jener Zeit mehr haben, wo sie weniger weltlich zerstreut lebten, ihr Gemüt innerlicher gesammelt, frommer und ernster auf eine Wesenreihe außerhalb der irdischen Welt gerichtet war. Gerade bei einem Manne von so würdigem, tief religiös gestimmtem Charakter, wie Ihr Vater war, konnte das füglich der Fall sein. Wie es sei, so hat er die Sache trefflich aufgenommen, zugleich ohne Furcht und Unglauben. Die Erzählung hat mich ausnehmend interessiert, ich danke Ihnen herzlich dafür, und sehe es als einen lieben Beweis Ihrer Bereitwilligkeit an, mir Freude zumachen, daß Sie so bald meinen Wunsch in dieser Sache erfüllt haben, und zu einer Zeit, wo Sie durch Ihr Umziehen auch sehr gestört waren. – Da das Wetter so rauh ist, bin ich noch mit meiner Familie in der Stadt, und gehe auch vorerst nur auf mein nahegelegenes kleines Landgut Tegel. Nachher vermutlich nach Ottmachau in Schlesien, auf sechs bis acht Wochen. Leben Sie herzlich wohl und verwahren Sie sich ja in Ihrer Wohnung gegen die Einflüsse der äußeren Lust, die noch garnicht frühjahrmäßig ist. Ihr H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin