Berlin , den 18. Oktober 1823.

Den für den Augenblick nötigsten Teil Ihres letzten Briefes, liebe Charlotte, habe ich schon neulich beantwortet, und bin begierig, aus Ihrem nächsten zu sehen, ob Sie meinen Rat befolgt haben werden. Der Ausgang bleibt allerdings immer zweifelhaft, indes kann der Schritt nicht schaden, und man weiß doch nicht, was geschieht. Ich halte immer sehr viel davon im Leben, die Anlässe, die sich zu etwas darbieten, was dem gewohnten Gange eine veränderte Richtung geben kann, nicht zu versäumen, sie vielmehr zu benutzen, und was sich daraus irgend entspinnt, in das übrige Leben zu verweben. Vorzüglich ist aber dies der Fall bei Dingen, die schon zu einer gewissen Reife gediehen sind, und das war doch Ihre Bekanntschaft mit dem verstorbenen Herzog. Er hatte Ihnen einmal so günstige Äußerungen gemacht, daß es schade wäre, auf diesem Wege nicht weiter fortzugehen. Es ist immer auch zugleich eine Prüfung der Menschen, und neben dem, was man etwa handelnd und redend ausrichten kann, ist doch im Leben das Anschauen, Versuchen und Sammeln von Erfahrungen das Nützlichste und wenigstens bei weitem das Unterhaltendste. Es kann zwar sein, daß das nicht so in jeder Natur ist, aber der meinigen ist es, sogar mehr als billig ist, eigen, das Leben wie ein Schauspiel anzusehen, und selbst wenn ich in Lagen war, wo ich ernsthaft selbst mithandeln mußte, hat mich diese Freude am bloßen Zusehen der Entwickelungen der Menschen und Ereignisse nie verlassen. Ich habe darin zugleich eine große Zugabe zu meinem innern Glück und eine nicht geringe Hilfe bei jeder Arbeit selbst gefunden. Das Erste ist leicht begreiflich und entsteht auf doppelte Weise. Zuerst hat man die positive Freude am Anblick der wirkenden Kräfte, am Weiterrücken der sich in uns unbekannten Ursachen verflochtenen Dinge und Ereignisse, und dann wird man gleichgültiger gegen den Ausgang, insofern dieser nämlich uns selbst betrifft. Denn der Anteil an andern kann dadurch auf keine Weise geschwächt werden. Im Handeln selbst aber gewinnt man dadurch Ruhe, Kälte und Besonnenheit. Besonders bei großen Angelegenheiten gibt diese Ansicht gerade die Überzeugung, daß sie, wenn sie auch gegen unsere Neigungen ausschlagen, einen Gang gehen, der tief in den einmal feststehenden Plänen des Schicksals liegt, und auch nur das Mindeste dieses Plans zu ahnen, ist schon an sich ein über jedes andere gehendes geistiges Vergnügen. Bei eigenen Lebensbegebenheiten ist es, wenigstens bei mir, anders. Es würde mir immer nur Eitelkeit und Selbstsucht scheinen, die ich mir nie erlauben würde, wenn ich, was sich mit mir und meiner Persönlichkeit ereignet, gewissermaßen tiefen Plänen im Weltlaufe zuschieben wollte. Es gehört freilich auch zum Ganzen, aber wie ein Atom, es interessiert mich geistig dabei nur, wie ich mich selbst betrage, wie ich die Ereignisse aufnehme, ob mit Fertigkeit im Widrigen, mit Bescheidenheit im Günstigen, ob ich tue, was ein Mann seiner Pflicht und seinen Gefühlen schuldig ist, das Übrige mag auf- und abstürmen, ich suche mich darein zu finden, so gut es nun einmal gehen will. Aber auch bei den, von höherem Gesichtspunkte aus betrachtet, unbedeutenden Ereignissen meiner selbst und meiner Familie bleibt doch jenes Vergnügen der Beschauung der ins Spiel kommenden Personen, der Umstände u. s. f., was oft für so vieles auch wirklich Widrige entschädigt. Es versteht sich jedoch von selbst, daß diese Beschauungslust des Lebens nie aus bloßer Neugierde entstehen muß, daß sie nicht sein darf, wie vergnügungssüchtige Leute in die Komödie gehen. Sie muß entstehen aus dem lebhaften Interesse, was man an der Menschheit, nicht bloß an ihrem Glück, denn das Glück ist bei weitem nicht das Höchste, sondern an ihrem innern Wert, ihrem Wesen und ihrer Natur nimmt, aus dem immer unermüdlichen Streben, eben diese menschliche Natur tiefer in ihrem Innern zu erkennen, und so viel es möglich ist, die Räder zu erahnen, welche die Schicksale der Menschen, oft unauflöslich scheinend, ineinander treiben, und sie dann doch wieder so schonend auseinander rollen, daß wahre, nur nicht gleich eingesehene Harmonie daraus hervorgeht. So wie alles im Menschen nur auf die Höhe des Gesichtspunkts ankommt, auf den man sich stellt, so ist es auch hier. Ist der Gesichtspunkt der rechte, edel und gut, so kann nichts als wieder Gutes und Edles daraus hervorgehen. – Ich bitte Sie, mir die Fortsetzung Ihrer Lebenserzählung sobald zuschicken, als Sie den Abschnitt erreicht haben, zu dem Sie kommen wollten. Leben Sie herzlich wohl; mit dem innigsten Anteil der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin