Berlin , Ende Mai 1826.

Ich bin sehr wohl, aber unendlich beschäftigt, da ich Arbeiten, die ich schon seit Jahren vorbereitet habe, endlich zu endigen denke. Ich habe mir für die nächsten Jahre einen regelmäßigen Plan darüber gemacht, und werde ihnen jetzt, wie ich es seit einigen Wochen tue, alle meine freie Zeit widmen.

Die Witterung ist so schön, wie sie selten bei uns, in unserm nördlichen Klima ist; man fühlt sich dann geistig wie körperlich heiter und mehr als gewöhnlich aufgelegt zu geistigen Beschäftigungen. Es ist gewiß ein beneidenswürdiger Vorzug der südlicheren Himmelsstriche, sich einer größeren Gleichheit der Temperatur zu erfreuen. In anderer Hinsicht ist diese Gleichheit der Natur wieder freudenloser und vielleicht gar in geistiger Hinsicht nachteilig. Die Ankunft des Frühlings ist keine solche reine und mit Ungeduld erwartete Begebenheit, da ihm der Winter garnicht so unähnlich ist. Dies wirkt natürlich auf die Seele, und wenn man annehmen kann, wie ich es wenigstens für sehr wahr halte, daß jede leidenschaftliche oder doch tiefere Empfindung ihren ursprünglichen Grund in Eindrücken der äußeren großen Natur, auch ohne daß wir es selbst im einzelnen bemerken, hat, so kann einen es wohl bedünken, daß die Sehnsucht garnicht so in der Seele und dem Gemüte südlicher Völker tiefe Wurzeln schlagen könne wie unter uns, wo seit unserer Kindheit jedes Jahr die große und tiefe, aus der dumpf verschließenden Starrheit des Winters nach dem neu sprießenden und grünenden Erwachen der Natur zurückführt. Dies muß dann aber, da nichts in der Seele allein steht, auch auf die ganze Empfindungsart zurückwirken, und so mag es entstehen, daß auch in unsern Dichtern alles mehr in kontrastierenden Farben, mehr mit Schattenmassen, die das Licht bekämpfen, ausgetragen wird, daß vieles freilich düsterer, finsterer ist, aber auch alles tiefer, ergreifender und bei jeder noch so kleinen Veranlassung mehr aus dem Licht der äußeren Natur in das Dunkel und in die Einsamkeit des inneren Gemüts zurückführend erscheint. Die Stärke der Empfindung und der Leidenschaft, die dort als Glut flammt, hat hier eine andere Art des Feuers, ein mehr innerlich geheim kochendes und langsam verzehrendes. Diese Empfindung, diese Sehnsucht wird noch dadurch vermehrt, daß wir in diesen wenig Reize darbietenden Himmelsstrichen auf jene immer wie auf ein Paradies hinblicken, das uns, wenigstens auf längeren und beständigen Wohnsitz, versagt ist. Das bringt in allen, hauptsächlich mit geistigen Dingen beschäftigten Menschen eine zweite große Sehnsucht hervor, die nur wenigen fremd ist. Denn wer sich hier auch noch so wohl fühlt und auch nie einen andern Himmelsstrich gesehen hat, kann doch nicht anders, als empfinden, daß es schönere gibt, und in jeder Art von der Natur reicher begabte. Es kann damit immerhin verbunden sein, daß er doch nicht seinen Aufenthalt mit einer Reise vertauschen würde, er kann in Dingen, die er wieder dort entbehren müßte, eine Entschädigung finden, allein darum ist das Anerkennen, daß ihm das minder Schöne zuteil geworden ist, immer gleich gewiß, und davon kann eine Sehnsucht, wenigstens auf Augenblicke, nicht getrennt sein. Auch ist sie in allen deutschen und englischen Dichtern und spricht sich gleich aus, wie der Zusammenhang Gelegenheit dazu darbietet. Es hat, wenn man das viel Größere mit dem viel Geringeren vergleichen dürfte, eine Ähnlichkeit mit der Sehnsucht nach einem mehr von sinnlichen Schranken befreiten Dasein, die in jeder höher gestimmten Seele wirklich vorhanden ist, ohne daß man doch darum gerade das Leben augenblicklich zu verlassen wünscht. – – – –


Die Einseitigkeit ist etwas ganz Relatives, und im Manne, der sich nach einer großen Menge von Gegenständen hinwenden soll, kann sie wohl zu fürchten sein. Frauen aber haben, wie man es recht eigentlich nennen kann, das Glück, vielen Dingen ganz fremd bleiben zu können, sie gewinnen meistenteils gerade dadurch, daß sie den Kreis ihres Erkennens und Empfindens zu kleinerem Umfang und größerer Tiefe zusammenziehen, und es ist also bei ihnen in der Art, wie beim Manne, Einseitigkeit nicht schädlich. Ich erinnere mich, früher zwei Frauen gekannt zu haben, die mit allen Mitteln versehen, sich in dem bewegtesten Leben zu regen, aus reiner Neigung und ohne Unglücksfälle eine solche Einsamkeit bewahrten, daß es auch dem einzelnen schwer wurde, ihnen zu nahen, und die dadurch gewiß nicht das mindeste an Interesse eingebüßt hatten. – – – –

Sie berühren mit Widerwillen manche Laster in gewissen Beziehungen und Folgen und wollen meine Ansichten darüber. Ich gestehe, daß ich die Ansicht nicht liebe und nicht sonderlich billigen kann, wo man die Sittlichkeit so in einzelne Tugenden zerlegt, welche man einzelnen Lastern gegenüberstellt. Es scheint mir eine durchaus verkehrte und falsche. Ich wüßte nicht zu sagen, wer unter den Hoffärtigen, Geizigen, Verschwenderischen, Wollüstigen mir der am meisten Verhaßte sei. Es kann es nach Umständen jeder sein; denn es kommt auf die Art an, wie es jeder ist. Ich gehe in meiner Beurteilung der Menschen garnicht darauf, sondern auf die Gesinnung, als den Grund aller Gedanken, Vorsätze und Handlungen, und auf die gesamte Geistes- und Gemütsstimmung. Wie diese pflichtmäßig oder pflichtwidrig, edel oder unedel ist, das allein entscheidet bei mir. Haben zwei oder drei Menschen in demselben Grade eine unedle, selbstsüchtige, gemeine Gemütsart, so ist es mir sehr einerlei, in welchem Laster sich diese äußert. Das eine oder andere kann schädlicher oder unbequemer sein, aber alle diese Untugenden sind dann gleich schlecht und erbärmlich. Und ebenso ist es mit den Tugenden. Es kann einer gar keine Unsittlichkeit begehen, manche Tugend üben, und dagegen ein anderer z. B. durch Stolz oder Heftigkeit oder sonst fehlen, und ich würde doch, wenn der letztere, was sehr gut möglich ist, eine höhere und edlere Gesinnung hegt, ihn vorziehen. In der Gesinnung aber kommt es auf zwei Punkte an, auf die Idee, nach und aus welcher man gut ist, und auf die Willensstärke, durch die man diese Idee gegen die Freiheit oder Leidenschaftlichkeit der Natur geltend macht. Die erbärmlichen Menschen sind die, die nichts über sich vermögen, nicht können, was sie wollen, und die, welche selbst, indem sie tugendhaft sind, niedrige Motive haben, Rücksichten auf Glück und Zufriedenheit, Furcht vor Gewissensbissen, oder gar vor künftigen Strafen. Es ist recht gut und nützlich, wenn die Menschen auch nur aus diesen Gründen nicht sündigen, aber wer auf Gesinnung und Seelenzustand sieht, kann daran keinen Gefallen haben. Das Edle ist nur dann vorhanden, wenn das Gute um des Guten willen geschieht, entweder als selbst erkanntes und empfundenes Gesetz aus reiner Pflicht, oder aus dem Gefühl der erhabenen Würde und der ergreifenden Schönheit der Tugend. Nur diese Motive beweisen, daß wirklich die Gesinnung selbst groß und edel ist, und nur sie wirken auch wieder auf die Gesinnung zurück. Tritt, wie das bei gutartigen Gemütern immer der Fall ist, die Religion dazu, so kann auch sie auf zweierlei Art wirken. Die Religion kann auch nicht in ihrer wahren Größe gefühlt, noch von einem niedrigen Standpunkte aus gewonnen werden. Wer Gott selbst nur in Rücksicht auf sich dient, um wieder dafür Schutz, Hilfe und Segen von ihm zu erhalten, um gleichsam von ihm zu fordern, daß er sich um jedes einzelne Lebensschicksal kümmern soll, der macht doch wieder sich zum Mittelpunkt des Alls. Wer aber die Größe und väterliche Güte Gottes so mit bewundernder Anbetung und mit tiefer Dankbarkeit in sein Gemüt aufgenommen hat, daß er alles von selbst zurückstößt, was nicht mit der reinsten und edelsten Gesinnung übereinstimmt wie der Gedanke, daß, was Pflicht und Tugend von ihm fordern, zugleich der Wille des Höchsten und die Forderung der von ihm gegründeten Weltordnung ist, der hat die wahrhaft religiöse und gewiß tugendhafte Gesinnung. – – – –

Ihrer fortgesetzten Lebenserzählung sehe ich, nach dem, was Sie mir sagen, in den nächsten Tagen mit großer Freude entgegen. Leben Sie herzlich wohl. Mit unveränderlicher, anteilvoller Anhänglichkeit der Ihrige. H.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin