An den Freiherrn von Humboldt , K. Pr. Staats-Minister, auf dem Kongreß in Wien.

Nicht an Ew. Exzellenz, nicht an den Preußischen Staatsminister, – an den unvergessenen, unvergeßlichen Jugendfreund schreibe ich, dessen Bild ich eine lange Reihe von Jahren verehrend im Gemüt bewahrt, und gern und viel dabei verweilt habe, der nie wieder von dem jungen Mädchen hörte, das ihm einst begegnete, mit dem er drei fröhliche Jugendtage verlebte in jenen schönen Gefühlen, die uns spät in Erinnerung beseligen und erheben. Der Name, auf den die Welt jetzt mit großen Erwartungen blickt, der Platz, auf den Sie früh durch Geist und Namen gestellt waren, machte es mir nicht sehr schwer, von Ihnen zu hören und Sie mit meinen Gedanken zu begleiten. Ich erfreute mich an allem Großen und Schönen, was ich las oder hörte, nahm meinen Anteil von dem Wahren und Guten, suchte den Sinn wie früher zu verstehen, dem Geist zu folgen, wenn ich ihn nicht gleich faßte. Das alles läßt sich nur durch Worte andeuten, aber nicht sagen. Nur einmal Sie wiederzusehen, wäre es auch nur in der Ferne, war und blieb mir ein vergeblicher Wunsch. Durch Freunde, welche kürzlich einige Zeit in Berlin lebten, erfuhr ich ausführlicher, was ich schon wußte, daß Ew. Exzellenz mit einer höchst geistreichen und ebenso edlen Dame sehr glücklich vermählt und Vater sehr liebenswürdiger Kinder sind, welche reiche Hoffnungen geben.

Ich lege hier ein Blättchen ein, das Ihnen drei in Pyrmont verlebte Jugendtage zurückrufen wird. Ich habe das liebe Blättchen unter den kleinen Heiligtümern der Jugend sorgfältig vor allen andern bewahrt, als das einzige Pfand und Siegel der reinsten und zugleich der einzigen wahren Lebensfreude, die mir das Schicksal zugewogen. Dies Blättchen (das ich mir zurück erbitten darf) wird Ew. Exzellenz eine Bekanntschaft zurückrufen, welche die großen Bilder und Erscheinungen des Lebens längst verwischt und ausgelöscht haben werden. Im weiblichen Gemüte bleiben solche Eindrücke tiefer und sind unwandelbar, um so mehr, wenn es (welche Bedenklichkeit sollte ich finden, Ihnen nach 26 Jahren diesen Beweis von Verehrung zu geben?) wie bei mir, die ersten, ungekannten Regungen erster, erwachender Liebe waren, so geistiger Art, wie sie wohl bei der edleren Jugend immer sind. Für die weibliche Jugend und die Entwickelung des Charakters aber ist es gewiß von der höchsten Wichtigkeit, für welchen Gegenstand die ersten Gefühle erwachen. Auch knüpften sich, was selten ist, durchaus keine trüben oder schmerzlichen Gefühle daran, sondern sie wurden von großem Einfluß auf die Ausbildung meines Charakters und Gemüts.


Die Gefühle wandelte die Zeit. Das tief ins Gemüt gesenkte, teure Bild erbleichte nie mehr. An dies geliebte Bild, das höher und immer höher erschien, lehnte sich fort und fort mein Ideal von Männerwert und Hoheit. Hier ruhte ich aus, wenn ich unter dem schweren Leben am Erliegen war, hier ermutigte ich mich, wenn aller Mut sank, hier richtete ich mich auf im Glauben, wenn der Glaube an Menschen schwankte. Glauben Sie mir, ewig geliebter Freund! (Sie verzeihen dem Herzen diese Benennung) ich bin gereift unter großem, mannigfaltigem Schmerz, nicht entadelt, noch je durch unwürdige Empfindungen entweiht. Ew. Exzellenz sind, das erkenne ich im eigenen Busen, noch derselbe, der Sie waren, wie wir uns einst begegneten. Die Höhe des Lebens, der Glanz der äußeren Stellung mögen für viele Klippen sein – hohe Naturen erlangen Reife und Vollendung, gleich viel, ob im Sonnenstrahl des Glücks oder im Schatten schwerer Verhängnisse. Der Gehalt in unserer Brust, wie die Form unseres Geistes, beides ist gewiß ohne Wandel, beides ewig.

Wie es mir erging? was ich erlebte? das werden Sie jetzt fragen. Es ist eine lange Reihe von Jahren, von der die Rede sein muß, dennoch läßt sich viel auf ein Blatt bringen, aber das gibt kein Bild, wird Ihnen nicht genug sein. So will ich suchen, Ihnen im äußeren Leben das innere in seiner Tiefe und ernsten Entwickelung zu zeigen. Ob und wie ich mich bemühen werde um Kürze, wird es doch einige Blätter füllen, die Auswahl und Zusammenstellung kann nur schmerzlich sein, wenn man sich in Gegenden umsieht, die gleichsam mit unsern Tränen benetzt sind. Wenn ich daher mich nicht so kurz fassen kann, wie es Respekt für die Person und die Zeit des mit den wichtigsten Arbeiten beschäftigten Ministers gebietet, so vertrete mich bei diesem der Jugendfreund. Legen Ew. Exzellenz die Blätter zurück für eine Stunde, die den Erinnerungen gehört.

Die Zeit, bis wo wir uns kennen lernten, gehörte der ersten Jugend, und diese war harmlos im stillen, friedlichen Schatten eines gebildeten, sorgenlosen Familienlebens auf dem Lande hingeflossen. An teuern Eltern hatte ich nur Rechtschaffenheit und Güte und Beispiele vieler Tugenden gesehen. Ein mehr als ausreichendes Vermögen erlaubte ihnen in jener einfachen Zeit viele Annehmlichkeiten des Lebens, besonders auch des häuslichen Lebens; demgemäß war auch die Erziehung ihrer Kinder; sie war vor allem, wofür ich sehr dankbar bin, in sittlicher Hinsicht sehr sorgfältig. Mein Vater, in ziemlich freier, unabhängiger Lage, indem meine Mutter dem Hause mit seltener Einsicht und Würde vorstand, ließ sich in seinen Neigungen gehen, die ihn vor allem in die Vorzeit und die Studien der Vorzeit zogen. Er lebte nur im Klassischen, war nur umgeben mit klassischen Werken. Die neue Lektüre zog ihn nicht an, ja ließ ihn unbefriedigt. Damit in Übereinstimmung war auch sein Umgang. Aus den nicht immer gelehrten, aber immer ernsten Unterhaltungen, die ich still anhörte, nahm ich vielleicht früh, und früher als andere, den Grund meiner intellektuellen Bildung, und genoß auch früher, als es gewöhnlich ist, das Glück, bedeutenden Personen näher zu stehen, mit großer Güte behandelt und ihres Anteils gewürdigt zu werden. Auf diese Art wurde ich, meinen natürlichen Anlagen gemäß, früh zum Nachdenken geführt, und mehr durch Zuhören als durch Unterricht, mehr durch Nachdenken als durch Kenntnisse und Talente auf den Weg der Bildung geleitet. Die ernste Richtung, die so, schon als Kind möchte ich sagen, meine Seele nahm, schützte vor vielen jugendlichen Torheiten und Frivolitäten, nährte aber zugleich mehr, als es wenigstens zum Glück des Lebens gut ist, den Hang zum Idealen. Dabei bildete sich mehr und mehr, denn es war schon sehr früh, ja schon in der Kindheit entstanden, ein hohes, beseligendes Bild von Freundschaft in mir aus, das mir das größte, einzige Erdenglück erschien. Die erste Erzählung, die mir durch öfteres Lesen genau bekannt wurde und mich begeisterte, war die allerdings wunderschöne Gesinnung und Handlungsart Jonathans gegen den zurückstehenden David. Alle Beispiele aus alter und neuer Zeit sammelte ich – Richardsons Clarisse gab den vollen Ausschlag. Jeder Aufopferung fähig, glaubte ich, nur für dies Glück geboren zu sein, und verlangte nichts Höheres. In Pyrmont war nun diese Überzeugung bis zur Begeisterung gesteigert und wurde bald die tiefe und unendliche Quelle vielfacher, leidenvoller Verhängnisse und schmerzlicher Verwickelungen. Verzeihen Sie diese Einleitung, die ich nötig glaube, um das Folgende richtig zu beurteilen.

Nun gehe ich über zu der schmerz- und ereignisschweren Vergangenheit, und von da zu der drückenden und zerdrückenden Gegenwart, die mir eigentlich zu diesem Schritt den Mut gegeben hat. Es wird schon leichter werden, da während des Schreibens bis hierher nach und nach das seelenvolle Vertrauen zurückgekehrt ist, womit wir uns einst in den Pyrmonter Alleen besprachen und verstanden.«
+ + +

Darauf folgte eine möglichst kurz zusammengefaßte Übersicht der hauptsächlichsten Ereignisse meines Lebens, worunter die am meisten herausgehoben und beglaubigt wurden, die mich zum Schreiben ermutigt hatten: meine großen Verluste an den Staat. Daran knüpften sich Pläne für mein Fortkommen, denen aber überall meine zerstörte Gesundheit, ein Mangel und Erschöpftsein aller Lebenskräfte entgegentraten. Das alles gehört nicht hierher und ist nicht erforderlich als Kommentar oder Einleitung zu den nun folgenden wertvollen Briefen, welche dadurch entstanden. Der Schluß war dann ungefähr so: »Jetzt haben Sie die Umrisse meines Lebens in dem langen Zeitraum übersehen, geben Sie der treuen, immer schweigenden Teilnahme etwas zurück! Sie kennen das Herz der Frauen und wissen besser, als ich das sagen kann, wie teuer uns alles ist, was dem einst geliebten Manne angehört und ihn beglückt. Sagen Sie mir etwas von den teuern Ihrigen, geben Sie mir etwas ab von Ihrem Glück!

Jetzt schließe ich die vielen Blätter ohne Furcht. Ich lege meine Angelegenheiten an Ihr Herz, da sind sie gut aufgehoben, und es geschieht, was geschehen kann. Wie sehe ich einer Antwort entgegen, die ich gewiß empfange!«

H., den 18. Oktober 1814.

Das Geheimnis des Glücks in der Liebe
ISBN: 978-3-939198-38-3
Preis: 9,90 €
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe an eine Freundin