VOLKSBILDUNG

Volksbildung ist keine gar so neue Sache, wie man wohl meint. Immer haben die Führer der Nationen, die Herren der Städte und Staaten getrachtet, die Gedanken der Wenigen, ihre Begriffe von Werten und Unwerten, ja ihr ganzes Gefühl des Lebens zu den Vielen zu leiten und immer ist es der Sinn aller Kultur gewesen, das Besondere allgemein zu machen, das schöne Werk oder die große Tat eines edlen Mannes im ganzen Volke fortleben und so den Einzelnen auf die Masse wirken zu lassen. Dies will jede Kultur, sie versucht es nur jedes Mal anders, je nach ihrer Art. So die griechische Kultur dem merkwürdigen Begriffe gemäß, den die Griechen von Erziehung hatten. Die griechische Erziehung geht von einer feinen psychologischen Beobachtung aus, die zuerst ein wenig befremden mag, aber doch kaum zu leugnen ist: nämlich, dass, wer die äußeren Formen, die Gebärden einer Leidenschaft oder den sinnlichen Ausdruck eines Gedankens, seine Erscheinung auf einem Gesichte, an einem Körper nachahmend annimmt, dass dieser dadurch nach und nach eben jene Leidenschaft, eben denselben Gedanken und das ganze Wesen jener Formen bei sich im Innern anzunehmen wie von einer geheimen Kraft gezwungen wird. Jeder kann an sich selbst die Probe machen, er versuche es nur. Er ahme nur einmal die Gebärden, den Gang, die Haltung eines Zornigen oder eines Schwermütigen eine Zeit nach, und er wird sehen, dass er dadurch selbst unwillkürlich in Zorn oder Schwermut gerät; wie er äußerlich tut, wird er bald innerlich fühlen. Edgar Poe hat von einem Polizisten erzählt, der, um die verschlossenen Gedanken und Pläne verdächtiger Leute zu erraten, sich damit half, dass er ihre Weise zu gehen, zu sitzen, den Kopf und den Körper zu halten genau beobachtete und dann selbst so lange auf dieselbe Weise ging, saß und den Kopf oder Körper hielt wie sie, bis er richtig auch wie sie zu denken, wie sie zu empfinden dadurch gezwungen wurde. Vielleicht hat das Gewand der Priester denselben Sinn. Man zieht dem jungen Mönch ein Kleid an, das ihn fromm zu schreiten, sich fromm zu halten und zu bewegen zwingt, weil die fromme Haltung mit der Zeit von selbst zur frommen Gesinnung wird. Auf diese merkwürdige Macht des Äußeren über das Innere, der Form über das Wesen (die man nicht leugnen kann, wenn man sie auch nicht überschätzen darf) haben nun die Griechen ihre ganze Erziehung gebaut. Man kann sie eine plastische nennen, indem sie sich bemühte, die Jünglinge an die Gebärden, den Gang, die Haltung, den königlichen Anstand und die würdige Art der Weisen, der Gutundschönen zu gewöhnen, vertrauend, dass sie dadurch schon von selbst, durch jene von außen nach innen wirkende Kraft, weise, gut und schön werden würden. So geschah die Bildung des griechischen Volkes: der Weise in seiner Stille hatte den großen Gedanken, die Gutundschönen im erhabenen Verein das edle Gefühl; nun wurde der Gedanke, das Gefühl an die Künstler gegeben, diese hatten ihre Form zu finden, ihren Ausdruck in einer Haltung des Kopfes, einer Biegung des Nackens zu gestalten; diese Gestalt wurde auf allen Plätzen ausgestellt, das Volk erblickte sie, ahmte sie nach und nahm so mit der äußeren Form von selbst das innere Wesen an, eben jenen Gedanken des Weisen, eben dies Gefühl der Gutundschönen. Dieselbe Bildung von außen finden wir in der Renaissance wieder. Auch die Renaissance glaubt, dass jede äußere Haltung ihre inneren Folgen hat, und wenn sie (durch die Vorschriften des Galateo und die Schilderungen des Cortigiano) die Menschen nur dahin bringt, vornehm zu scheinen, so ist ihr gar nicht bange, dass sie es auch sein werden. Wer sich wie ein Großer stellt, wird dadurch selbst groß, ist auch ihre Maxime.

Es braucht nicht erst gesagt zu werden, dass die Volksbildung von heute einen ganz anderen Gedanken hat. Sie will nicht von außen nach innen, sondern unmittelbar gleich auf das Innere wirken, und zwar durch Wissen. Bildung ist ihr Wissen, Kenntnisse will sie geben. Die Zeit, aus der sie stammt, hat ja geglaubt, Alles aus dem Geiste zu kurieren. Durch ein schlechtes Wissen erklärte jene Zeit der Rationalisten jedes Laster des Menschen, jedes Unglück der Nation und jedes war durch ein besseres Wissen zu heilen. Der besser Wissende war ihr auch der besser Handelnde; den Einzelnen, wie die Nation, wollte sie zum Schulmeister schicken. Von äußerem Anstand, guten Sitten und der Nachahmung schöner Gebärden, die die Griechen und die Renaissance gepflegt hatten, hielt sie nichts. Wissen war ihr Alles. Unwissend zu sein, wurde jetzt eine Schande (eine den Griechen und der Renaissance ganz fremde, ja, unverständliche Meinung). Unwissend und ungebildet wurde jetzt dasselbe. Bildung wurde eine Sammlung von Kenntnissen; das Volk bildet, wer Kenntnisse im Volk verbreitet. Das ist der neue Begriff seit etwa hundert Jahren. Er wirkt auch in unseren „Volksbildungsvereinen“ noch nach. Durch sie ist ohne Zweifel das Wissen unseres Volkes ein besseres geworden; reichlich haben sie Kenntnisse ausgestreut. Dass dies recht, dass es nützlich, ja, dass es notwendig war, wird Niemand bestreiten. Die Frage ist nur, ob es uns heute noch genügt. Die Frage ist, ob nicht inzwischen unser Begriff der Bildung schon wieder ein anderer geworden ist. Ist er das, reichen wir mit dem bloßen Wissen nicht mehr aus und zeigt es sich, dass wir jetzt die Bildung des Einzelnen anders verstehen, als man sie seit hundert Jahren verstanden hat, so wird auch die Kultur des Ganzen, die Bildung des Volkes andere Mittel und eine neue Form verlangen müssen.


Was ist uns Bildung? Was fordern wir von einem Manne, der gebildet heißen will? Was fordern wir von einem Volke, um ihm Kultur zuzusprechen? Wissen? Kenntnisse? Bloß Wissen und Kenntnisse? Ich glaube nicht, dass sie uns genügen. Es kommt mir vor, als ob wir keinen solchen Respekt vor dem bloßen Wissen mehr hätten. Hört man bei den Menschen ein wenig herum, wie sie urteilen, was sie sich wünschen, so scheinen es heute doch andere Werte zu sein, die uns bestimmen. Wir achten nur, was uns zum Leben hilft, was uns kräftiger, rascher und entschlossener im Handeln, freudiger, reicher und dankbarer im Genießen macht, was uns eine Kraft im Thun und Leiden gibt. An dieser messen wir, nach dieser schätzen wir die Dinge. Auf ein schönes Sein, auf ein großes Tun ist unser Trachten gespannt; das bloße Wissen, das leere Denken will uns nicht mehr genügen. Was nicht in uns selbst zu eigenem Leben werden kann, mit uns verwachsend, bedeutet uns nichts mehr. „Wir sind es müde, mit Geschaffenem und Gemachtem abgefunden zu werden: wir wollen Geborenes, um mit ihm zu leben, Du um Du,“ hat Paul de Lagarde gesagt; dies ist das große Geheimnis unserer Sehnsucht. Wir wollen nichts Fremdes mehr in uns haben, wir wollen uns Alles aneignen! Was helfen uns Kenntnisse? Wir wollen Erlebnisse. Das Erlernte ist ohne Kraft, nur das Erlebte kann wirken. Das aber begehren wir, das Wirkende; nur das wollen wir gelten lassen. Nicht auf das Kennen vieler Dinge, nein, auf das Können des Lebens nur kommt es uns an! Dass wir etwas wissen, hilft uns nicht, wenn es nicht wirkend, schaffend, zeugend in uns lebt, wenn es nicht unser Organ wird, ein Glied von uns, eine dritte Hand, ein neuer Sinn, wenn es nicht unser ist. Das wollen wir: nicht Schulden fremder Kenntnisse, sondern eigenen Besitz lebendiger Kräfte, die uns so gehorchen, so dienen können, so gewiss und treu sind, wie Auge oder Ohr an unserem Leibe. Das nur macht uns Bildung aus. Große Gedanken, edle Gefühle wollen wir nicht bloß „wissen“, sondern ihnen wie unseren Händen gebieten, über sie verfügen können. Es genügt uns nicht, dass sie unser Eigentum, unsere Sache, sondern sie sollen unsere Natur, eine Verlängerung und Erweiterung (wenn man so sagen darf) unserer Person werden. Wie wir uns das denken, ist freilich schwer in Worten auszusprechen. Aber wir haben Beispiele, das große vor Allem: Goethe! Von ihm wissen wir, dass ihm das Wachsen und Werden der Pflanzen, die Verwandlungen der Tiere aus bloßen Begriffen zu so lebendigen Gefühlen geworden sind, als wenn er sie an sich selbst erfahren, in sich selbst erlebt hätte, wie Regungen der eigenen Seele, Vorgänge in seinem Innern. Ja, er hat es sogar mit Menschen nicht anders gemacht. Nicht bloß Begriffe, sondern fremde Menschen sogar hat er sich so angeeignet, dass sie ein Stück seiner Natur, wie ein Teil von ihm selbst geworden sind. Der Kanzler Müller erzählt einmal, wie eine polnische Virtuosin, Frau Marie Szymanowska, die Goethen sehr gefiel, sich von ihm verabschieden kam. Als nun „unter mancherlei ausgebrachten Toasten auch einer der Erinnerung geweiht wurde, brach er mit Heftigkeit in die Worte aus: Ich statuiere keine Erinnerung in eurem Sinne, das ist nur eine unbeholfene Art, sich auszudrücken. Was uns irgend Schönes, Großes, Bedeutendes begegnet, muss nicht erst von außen her wieder er—innert, gleichsam er—jagt werden, es muss sich vielmehr gleich von Anfang her in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein neueres, besseres Ich in uns erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und schaffen. Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen
dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muss stets produktiv sein, ein neueres Besseres erschaffen. Und,“ setzte er mit großer Rührung hinzu, „haben wir dies nicht Alle in diesen Tagen an uns selbst erfahren? Fühlen wir uns nicht Alle insgesamt durch diese liebenswürdige, edle Erscheinung, die uns jetzt wieder verlassen will, im Innersten erfrischt, verbessert, erweitert? Nein, sie kann uns nicht entschwinden, sie ist in unser innerstes Selbst übergegangen, sie lebt in uns mit uns fort und fange sie es auch an, wie sie wolle, mir zu entfliehen, ich halte sie immerdar fest in mir!“ Hier ist rein und fasslich ausgesprochen, was jetzt dunkel in uns drängt: dass nur das gelten soll, was unser geworden ist, was uns gehört, was wir nicht mehr verlieren können. Dies ist uns Bildung: kein Besitz von Kenntnissen, sondern die innere Kraft, immer mit aufnehmender Seele bereit zu sein und sich aller Erscheinungen des Lebens zu bemächtigen. Goethe, dann Schopenhauer, Nietzsche und Paul de Lagarde, zuletzt der edle Moriz von Egidy haben für diesen neuen Begriff der Bildung gewirkt. „Kunst und Wissenschaft nicht mehr neben unserem Leben, unser Leben selbst?“ hat Egidy einmal ausgerufen. Das ist es! Das nur ist uns wert, Bildung zu heißen, des Einzelnen, wie des Volkes.

Eine Kraft, die den Menschen fähig macht, sich aller Erscheinungen des Lebens für sich selbst zu bemächtigen! Ja, wie gibt man ihm die? Wo nimmt man die her? Nichts soll dem Menschen mehr fremd sein, Alles soll sein Eigen werden, indem es mit ihm verwächst. Aber wie? Wie geschieht das? Indem man ihm reinere und stärkere Sinne gibt! Damit wird jede neue Erziehung beginnen müssen: die Menschen rascher im Erfassen, gewaltiger im Erhalten zu machen, ihnen hellere Augen, schärfere Ohren, neue Organe zu geben, die auch das Leiseste noch empfangen, das Leichteste noch bewahren können. Wer einen Menschen bilden will, der wecke und reinige und schärfe seine Sinne. Wer es ein Volk will, der lehre es sehen, lehre es hören, lehre es spüren. Man gehe nur einmal mit einem unserer „Gebildeten“ in einen Wald, wenn die Sonne scheint, wenn die Vögel singen, und frage ihn, was er sieht und hört — man wird erschrecken: er sieht nicht, er hört nicht, ihm glänzt das Licht umsonst, ihm tönt der Wald umsonst, er ist blind, er ist taub, er hat es ja nie gelernt, nicht sehen und nicht hören gelernt, mit dumpfen Sinnen geht er in einer ewigen Nacht dahin! Wecken wir ihn auf, geben wir ihm das Licht, lassen wir ihn endlich das Leben fühlen, das große, herrliche Leben!

Aus theoretischen ästhetische Menschen zu machen, das ist die Aufgabe der Zeit. Draußen hat man das schon erkannt. In England sind es die Präraffaeliten gewesen, in Frankreich ist es Gustave Geffroy mit seinen Freunden (Carrière, Clémenceau u. A., mit der Parole: „Musée du soir“), in Belgien die Gruppe der „Maison du Peuple“, in Hamburg der Kreis um Lichtwarck — überall sehen wir schon regen Eifer für eine ästhetische Bildung des Volkes an der Arbeit. Nur bei uns ist es noch still. Man hat freilich die Arbeiter in das Museum geführt, aber was hilft ihnen das, wenn sie nicht erst gelernt haben, wie man Bilder ansehen soll? Was hilft es, sie ins Theater zu setzen, wenn sie nicht erst gelernt haben, wie man Gedichte hören soll? Wie Viele sind denn unter uns, die das können? Seien wir aufrichtig: wie viele „Gebildete“ gibt es denn, die fähig sind, ein Bild zu sehen, ein Gedicht zu hören, die Schönheit eines Werkes, sei es der Natur oder eines Künstlers, rein zu empfinden? Wir haben es ja nie gelernt. Wir haben Alle weder sehen, noch hören, noch empfinden gelernt, immer nur wissen. Immer nur Kenntnisse, tote Daten hat man uns gegeben — und rings ist die lebendige Natur, rings ist die lebendige Kunst, rings ist überall Leben! Machen wir dem Volke die Augen und die Ohren und alle Sinne auf, lehren wir es sehen, hören, fühlen, und es wird stark und froh sein, und es wird erst leben. „Kunst und Wissenschaft nicht mehr neben unserem Leben — unser Leben selbst!“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bildung.