PLATEN

Einige junge Leute von gewaltigen Hoffnungen und edlen Wünschen sehen wir jetzt sich bemühen, den Deutschen durch Verse von ungemeiner Art oder doch durch das Höchste mit Leidenschaft fordernde Betrachtungen den feineren Begriff einer kunstmäßigen Poesie zu geben, die seit dem Meistersang verschollen ist, ja wohl den Meisten eher als etwas Undeutsches, mit dem Grunde des deutschen Wesens nicht zu Versöhnendes gilt In dieser Nation ist nämlich ein Begriff der Lyrik üblich geworden, der nur das instinktive, von den Lippen des Volkes flatternde Lied, wie es vom Leben abspringt, oder was sich ihm doch nähert und seinen Anschein hat, geehrt wissen will. Eine einfache Empfindung in der reinsten Form, die auch dem letzten unter den Menschen noch ans Herz geht, ohne Umschweife und, sagen wir es nur deutlich heraus: eigentlich auch ohne Kunst auszusprechen, hat man sich bei uns angewöhnt, als das Amt der lyrischen Poesie anzusehen. Nur der dionysische Dichter wird gehört; die sanftere Art des beschwichtigenden Apoll haben wir lange nicht mehr vernommen. Dieser trachten nun einige junge Leute nach; ob sie das Große vollbringen werden, ist noch ungewiss, aber man darf sie als Zeichen nehmen, dass jetzt bei uns Kultur mit Inbrunst gesucht wird. Ihnen ist das Lyrische nicht der Aufschrei einer Begeisterung oder Bedrängnis durch das Leben, ihre Dichter wanken nicht im Rausche. Nein, es ist ihre Weise, sich die Urbilder desjenigen, das wir erleben, träumen zu lassen. Diese Träume heben sie dann mit so zärtlichen Fingern empor, hoch empor, und sie wollen sie in prächtige und schwere Worte fassen, die ihrer würdig sein sollen. Die schönen Worte verehren sie sehr; diese scheinen ihnen den großen Zauber zu besitzen, der das Geheimnis des Lebens öffnen kann. Mit der reinsten Demut, ehrfürchtig gebückt, sehen sie zu ihnen auf und empfinden sich als Priester, denen es vergönnt ist, Gnaden zu spenden. Im Gefühle solcher Auserwählung mögen sie sogar bisweilen irren, indem sie der Menge durch ihre Gebärden wunderlicher scheinen, als es ihrer Würde dient. Doch soll man sich freuen, dass wir sie haben: denn durch sie wird es uns gelingen, alten Irrtum abzutun.

Es ist natürlich, dass sie sich um Heilige und Schutzpatrone ihrer Wünsche umsehen. Sie haben das Bedürfnis, sich durch große Beispiele in ihren Vorsätzen zu bekräftigen. Als ein solches Beispiel stellen sie Platen hin. Er ist ihnen derjenige, der unter allen Deutschen am reinsten dem Apoll gehuldigt hat. Kein deutscher Poet ist kunstvoller gewesen und mit Andacht streben sie seiner so artistischen Weise nach. Seine königlichen Strophen von stolzen und heroischen Bewegungen sehen sie mit einer unbeschreiblichen Rührung an, aber auch sein Leben ist ihnen ein Muster geworden. Sie denken sich ja, dass der strenge Diener des Apoll der Welt entsagen soll und bei sich leiden muss, unter den täglich handelnden Menschen ein Gast, der unverstanden bleibt. Was sie selber erst nur mit heißen Begierden dunkel verlangen, das glauben sie in ihm hell und wunderbar erfüllt zu sehen. So ist ihrer Gemeinde sein Name teuer und erlaucht; sie werden sich freuen, dass nun endlich seine so lange verwahrten, ängstlich behüteten Tagebücher*) unter die Leute treten. Diese Tagebücher, 18 Bände stark, hat der Dichter mit großer Liebe gehegt. Es kam ihm mit ihnen nicht darauf an, äußere Umstände, Begegnungen oder Abenteuer zu notieren, sondern er wollte „seine allmähliche Entwicklung deutlich entfalten“ und eine „fortlaufende Geschichte seiner Empfindungen“ geben. So mächtig ist das in ihm gewesen, dass er schon am 22. Oktober 1813, als ein Page von 16 Jahren, sein erstes „Memorandum“ abgefasst hat, die Kinderjahre zu Ansbach und dann im Münchener Kadettencorps schildernd. Diese Aufschreibungen wurde er nicht müde immer wieder vorzunehmen, ändernd, feilend und verbessernd, bis sie schließlich zu einer so treuen Geschichte eines suchenden und fragenden Gemütes geworden sind, wie wir in unserer Literatur nicht viele haben.


*) „Die Tagebücher des Grafen August von Platen.“ Herausgegeben von G. von Laubmann und L. von Scheffler. Stuttgart 1896. Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung.

Zwei Vorurteile gegen Platen werden durch das Tagebuch erledigt. Man wird endlich aufhören müssen, von dem „kalten“ Dichter zu sprechen, und man wird endlich sein seit Heine berüchtigtes Verhältnis zu Freunden verstehen lernen. Über beides soll hier ein Wort gesprochen werden, nicht aus Neugierde, sondern weil es Dinge sind, die endlich einmal auch von den Deutschen, diesem unpsychologischen Volk, begriffen werden müssen.

Man hat sich bei uns angewöhnt, alles Apollinische kalt und steif zu finden. Man erinnere sich, dass auch Goethe so beschuldigt worden ist. Jeder wird bei uns der Herzlosigkeit und des Ungefühles verdächtig, wenn er die Kraft hat, seine Wallungen zu bezwingen und in die edle Zucht der Form zu fügen. Nein, unsere Sitte ist es, dass jeder nur so die Lava aus seinem Innern herausdampfen lassen soll; dieser Rauch wird dann Poesie genannt. Die klaren Bilder des unberauschten, hell träumenden Künstlers scheinen daneben blass. Dass die Kunst aber die Ruhe des Streites ist und alle Leidenschaften gebändigt enthält, indem sie nur die Schatten abbildet, die das wilde Leben in ihre reinere und lautlose Region wirft, können wenige begreifen. Darum ist es gut, einmal einem solchen „kalten“ Dichter ins Herz schauen zu dürfen. Welche Zärtlichkeit der Neigungen, welcher Tumult von Wünschen, welche Wut der Kränkungen und Leiden! Jene anderen Dichter nach dem Geschmack der Deutschen, die jeden Ärger und Verdruss gleich ausrufen, schütteln ihre Qualen in Versen ab. Er wird durch seine Schmerzen, die kein Ventil haben, bis in einen ekstatischen Zustand getrieben, wo er dann starr daliegt und in eine andere Welt blicken darf. Er lebt in Leiden, wie Fakire sich im Kreise drehen, bis sie in den großen Schlaf verfallen. Und sein wunderbarer Schlaf ist die Kunst.

Sein Verhältnis zu Freunden ist seit Heine verdächtigt worden. Dass ein Mann für einen Jüngling zärtliche Gesinnungen und die reinste Schwärmerei hegen kann, wollen die Leute bei uns nicht glauben; sie denken gleich an Laster oder, um es zu entschuldigen, halten sie ihn für krank. Sie sollten doch einmal alle großen Zeiten betrachten, da werden sie immer Paare desselben Geschlechts finden, welche eine unschuldig wilde Liebe verbindet: die Sehnsucht, durch einen anderen größer und besser zu werden, als man es allein werden kann, und ihn besser und größer zu machen, als er es durch sich selbst würde. Das stürmische Verlangen solcher Liebenden ist auf einen edleren Besitz gerichtet, als die Verleumder begreifen können: die Tugenden des anderen will jeder besitzen, dafür gibt er ihm die eigene Seele hin. Eine unaussprechliche Leidenschaft, ein schönes Gemüt mit seinem Geiste zu küssen, lässt sie die reinsten Verzückungen empfinden. Da genügt ein Blick des anderen, eine sanfte Wendung seines Halses; in jedem kleinen Zeichen wird der Beglückte gleich das ganze Wesen des Beglückenden inne und indem dieser ihn an der Hand nimmt, kann er ihn leise und leicht, wie schwebend, zur Erfüllung der höchsten Pflichten geleiten. Diese süßeste Bezauberung nach der größten Kultur ringender Jünglinge, die immer noch schöner, noch tugendhafter werden möchten, ist seit den Sonetten des Shakespeare niemals mit solcher Macht geschildert worden als in diesem Tagebuch. „Während dieser Zeit sah ich ihn zu Öfteren Malen im Lesezimmer, ich saß oft neben ihm und verließ mehrmals mit ihm zugleich das Haus, ich begegnete ihm auf der Straße und alles dies trug bei, meinen Wahn zu verstärken und eine völlige Leidenschaft in mir festzusetzen, die aber doch einen milden Charakter trug, obgleich sie oft zu einer heißen Sehnsucht gesteigert wurde . . . . Ich war in meine Lektüre vertieft, als plötzlich die edle Gestalt vor mich hintrat. Er nahm eine Zeitung, die mir zur Seite lag. Wie war ich froh, ihn wieder zu sehen. Er saß ungefähr vier Stühle von mir entfernt. Ich verließ meinen Sitz ein paar Augenblicke, um ein Journal zu holen; unterdessen gingen die Personen, die zwischen uns ihren Platz hatten, und B. setzte sich auf den Sessel neben mich. Ich war halb berauscht durch diese Nachbarschaft. Ich nahm mich zusammen, um ein geheimes Zittern zu verbergen, das mich ergriff, und obschon ich ganze Seiten in einem Journal von de la Motte-Fouqué las, so habe ich doch nicht einen Buchstaben behalten, demungeachtet war von Gegenständen der Poesie die Rede, von Dingen, die mir sonst die interessantesten würden geschienen haben. Aber nun kam ich mir selbst vor, wie Don Carlos in der Kapelle, als die Kleider gewisser Damen hinter ihm rauschten; ich verlor mein Fassungsvermögen. Ich hatte mich gegen acht Uhr bereits zum Gehen fertig gemacht, als er gleichfalls aufstand. Ich ging rasch zur Tür hinaus, er folgte mir in ein paar Minuten. Wir kamen fast zugleich zu der Tür des Vorsaales; er öffnete sie und ließ sie mir offen. Er sprang die Treppe hinunter, ich ungefähr zehn Schritte hinter ihm. Wir gingen am Gange nebeneinander; am Tore machte er eine kleine Zögerung, so dass ich gezwungen war, vorauszugehen. Er ging rechtswärts gegen die Hauptwache, ich linkswärts. Es scheint mir doch ein stummes Verhältnis zwischen uns zu walten." Das ist der Ton dieser Bekenntnisse, die in ihrer einfältigen, ja kindlichen Größe bisweilen an die Vita nuova denken lassen. Man muss wünschen, dass sie zu vielen Deutschen gelangen mögen. Vielleicht werden diese dann doch den Ernst und die Andacht solcher Verhältnisse von der tiefsten Sittlichkeit, ja einer wahren Heiligkeit begreifen lernen. Wie gut wäre es, wenn wir weniger an Krafft-Ebing und mehr an die Griechen mit unserem Herzen denken würden!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bildung.