PLAKATE

Ein junger Franzose, Herr Paul Adam, hat neulich in einem Aufsatze des „Journal“ einen Einfall ausgesprochen, der ein bischen paradox scheint, aber vieleicht, ernst genommen, ganz gute Folgen haben könnte.

Herr Paul Adam hat sich durch seine Romane „Le mystère des foules“, „L’année de Clarisse“ und „La Bataille d’Uhde“ einen Namen gemacht, Romane von starker Energie, denen es freilich noch an dem rechten Verhältnis der Absicht zur Ausführung fehlt, die aber doch ungewöhnlich wirken. Diesem Autor ist, das spüren wir gleich, die Weit der Literaten zu enge und zu klein, er strebt ins Weite, er blickt in die Höhe, er will die Kräfte erkennen, die das Leben bestimmen, und das Werden und Vergehen seiner Zeit, das Steigen oder Sinken seiner Nation möchte er anschauen. Nur drückt er Alles noch in einem recht absonderlichen, überarbeiteten und geschwollenen Styl aus, der vor lauter Adjektiven, umwundenen Einsätzen und harten, erzwungenen Vergleichen zu platzen droht. Dringt man aber durch diese ungestalte und trübe Masse gärender und dampfender Worte mit Mühe durch, so schimmern große Gedanken hervor. Die nur artistischen, lebensfremden Spiele, die ein Teil der jungen Franzosen jetzt treibt, wirklich nur noch von einem grammatikalischen Interesse, genügen ihm nicht, sondern es drängt ihn, hinauszutreten und bei den Menschen zu horchen und die vielen Stimmen der Zeit zu vernehmen, aber nachdem er sie angehört, ihnen auch sein Urteil zu
sprechen, ja oder nein zu ihren Hoffnungen und Wünschen und Entrüstungen zu sagen, Richtungen zu geben, Wege zu weisen und so ein Warner, ein Lehrer und ein Führer seinem Volke zu werden. Das will er auch als Journalist, er nimmt dieses Amt ernster, als es meistens geschieht. Nicht bloß durch hübsche Worte amüsieren, durch irgend eine besondere Wendung gefallen, durch einen kecken Witz, eine neue Laune verblüffen; nein, er will als Journalist der Philosoph des Tages sein, der das Heute an dem Gestern misst und um das Morgen fragt, vom Besonderen ins Allgemeine sieht und jeden Fall zum Beispiel einer Maxime nimmt, immer das Gesetz sucht, das Einzelne mit dem Ganzen verbindet und jede Erscheinung prüft, woher sie komme und wohin sie gehe. Dabei bleibt er nicht im Nächsten befangen, sondern blickt über seine Stadt weg ins Land, vom Pariser auf den Franzosen, von seinem Volke auf die Menschheit hinaus. Auch ist ihm schauen, betrachten und urteilen nicht genug, er will auch handeln: nicht bloß zeigen, wie es ist, sondern raten, wie es sein soll; nicht bloß ankündigen, was kommen wird, sondern mitwirken, dass das Recht kommt Er ist kein bloßer Reporter, der nur berichtet, und kein bloßer Psychologe, der nur erklärt — mitzutrachten und mitzutun sieht er für den Beruf des Journalisten an.


In jenem Aufsatz des „Journal“ wundert er sich nun, dass wir noch niemals versucht haben, die Wände unserer Straßen mit den schönen Worten unserer Dichter zu dekorieren. Macht man für Waren Reklame, warum, fragt er, warum nicht auch einmal für gute Gedanken, für edle Gefühle? Warum soll die Beredsamkeit der Fassaden immer nur dem Handel dienen? Warum nicht der Tugend, der Wahrheit, der Schönheit? Sie ladet uns zum Essen und zum Trinken ein, warum niemals zum Denken? Sie sagt uns, wo wir unsere Kleider, wo wir Möbel, wo wir Öfen beziehen sollen, warum nicht, wo wir Empfindungen und Stimmungen bekommen können? Im Orient ist man weiser. Dort sind die Wände mit Sentenzen des Koran geschmückt. Warum ahmen wir das nicht nach? Im Café sehen wir ein Plakat an der Wand, das uns einen Schnaps empfiehlt. Würde es uns nicht lieber sein, an der Wand eine Strophe von Baudelaire oder ein Sonett von Heredia zu sehen? Würde das für unsere Seele, die von den Geschäften ermüdet ist, nicht besser sein? Oder auf der Straße über einem Tore in großen Buchstaben hier eine Ode des Victor Hugo, dort eine der mächtigen, marmornen Perioden von Flaubert! Und ebenso daheim als Schmuck unserer Zimmer: statt der dünnen Blumen und albernen Verschnörkelungen unserer Tapeten, die uns unerträglich geworden sind, warum nicht lieber ein Monolog des Hamlet, ein Chor aus dem Oedipus an der Wand? Welche Erfolge könnte diese Methode haben! Die Stadt wäre wie ein offenes Buch, für jeden Flaneur zu lesen. Auf irgendeiner Bank sitzend, um sein Brot zu essen, hätte der Vagabund dabei die höchsten geistigen Genüsse. Wie oft würde er vielleicht ein Wort von Chateaubriand, das er da zufällig gelesen hat, in der Erinnerung bewahren und, wenn er dann nach Hause geht, sich seines Neides und der kleinen Gelüste schämen.

So Adam. Über diesen Gedanken lässt sich auf das angenehmste phantasieren. Man stelle sich das nur recht vor, man male es sich nur ein wenig aus! Denken wir uns, wir hätten die Macht, anzuordnen, dass die Wände unserer Straßen, da sie doch öffentlich sind, auch dem öffentlichen Dienste, der Erziehung und Erbauung des Volkes gehören sollen. Also, es sollen fortan nicht bloß Galoschen und Kindermehl, sondern auch Ideen annonciert werden. Wir hätten an einer Ecke etwa eine patriotische Tafel: Drei Felder , das in der Mitte mit Grillparzers „Glück auf, mein Feldherr, führe den Streich“, das links das Motto des Rustan („Eines nur ist Glück hienieden, Eins: Des Innern stiller Frieden“
u. s. w.), das rechts die Rede Homeck’s auf Österreich enthaltend (aus dem „Ottokar“: „Ein voller Blumenstrauß, so weit es reicht, vom Silberband der Donau rings umwunden“ u. s. w.). An der nächsten Ecke eine philosophische Tafel mit Maximen des Lebens; etwa ein Auszug aus der „Metamorphose der Tiere“:

„Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür
Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von behaglicher Ordnung,
Vorzug und Mangel erfreue Dich hoch! Die heilige Muse
Bringt harmonisch in Dir, mit sanftem Zwange belehrend.
Keinen höheren Begriff erringt der sittliche Denker,
Keinen der tätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher,
Der verdient es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone!“ —

Oder auch eine praktische Tafel mit Belehrungen über die erste Hilfe bei Unfällen oder mit Warnungen vor den Folgen des Alkohols. Dies ließe sich ausspinnen; je nach den Ansichten, die er auf die Erziehung der Nation hat, wird es sich Jeder anders denken. Dieser demokratischer und pathetischer. Jener strenger und lehrhafter. Hat man aber eine Zeit so mit den Gedanken gespielt, so fällt es Einem dann noch ein, auch zu fragen: Wie würde das aber aussehen? Ganze Wände mit Gedichten beschrieben, in unseren Buchstaben, denselben, die die Erlässe des Bürgermeisters und die Verordnungen der Polizei mitteilen — schrecklich! Das ist wohl das erste Gefühl eines Jeden: Es würde schrecklich anzusehen sein, monoton, dürr, grau! Und dies bedenkend, wird man nach und nach gewahr, dass in der Anregung des Franzosen zwei Fragen stecken, die man erst trennen muss, wenn sie nützen soll, und die man eine nach der anderen für sich zu prüfen hat.

Die eine Frage ist: Kann man überhaupt mit Worten dekorieren, können Worte schmücken, können Worte wie Farben oder Linien wirken? Dichter werden das gewiss bejahen. Sie haben ein besonderes Verhältnis zu den Worten, ein fast sinnliches Verhältnis:

Manche scheinen ihnen wie Juwelen zu leuchten, die einen feierlich, andere lustig auszusehen, die einen hell, die anderen schwarz und finster zu sein. Die Worte haben für sie nicht nur ihren Klang, sie haben auch ihre Farbe und ihren Glanz; sie hören sie nicht nur, sie glauben sie auch zu sehen, wie sie ja wohl auch behaupten, dass manches Wort weich und geschmeidig, manches hart und rau anzugreifen sei. Ich habe einen Dichter gekannt, der in das Wort: „Golden“ wie verliebt war. Es hatte für ihn einen Zauber, einen Reiz, wie nur irgend eine sehr üppig oder schmachtende Farbe haben kann. Er war sehr arm, aber wenn er in seiner elenden Stube, die Augen vor Entzücken schließend, leise vor sich hin sagte: Golden, golden! dann vergaß er die Not und manchmal schrieb er das Wort hundertmal ab und konnte dann, das Papier in der Hand, stundenlang sitzen und schauen und sich freuen. Er hätte in so einen „Salon Baudelaire“, in so ein „Speisezimmer Victor Hugo“ gepasst. Aber andere Menschen? Vom Fürsten de Ligne wissen wir, dass er es liebte, seine Stimmungen durch Inschriften an der Mauer seines Gartens auszudrücken —

„Adieu! Fortune, Honeurs, adieu, vous et les vôtres.
Je viens ici vous oublier.
Adieu toi-même, Amour, bien plus que les autres
Difficile à congédier!“

Mancher Andere mag sich schon gewünscht haben, Verse, die er verehrt, Sentenzen, denen er gehorchen will, als stille Mahnungen an das Edle immer unter den Augen zu haben. Daher die Sitte der Wandsprüche, besonders in Trinkstuben und Ratskellern. Aber man weiß doch, wie hässlich sie sind! Sie sprechen den Verstand an, aber das Auge beleidigen sie. Die Dichter haben eben doch nicht recht: Worte sind keine Farben, keine Juwelen. Sie sind nur Buchstaben, und diese Buchstaben sehen schlecht aus und sie befremden an der Wand, es fehlt ihnen an einer natürlichen Verbindung mit der Wand (so dass sie an ihr heranzuwachsen, aus ihr hervorzublühen scheinen würden), sie scheinen immer nur so hingepickt und angeklebt zu sein. Man versuche es nur einmal selbst! Ich habe mir oft gedacht, ich möchte in meinem Zimmer den Lehrbrief des Wilhelm Meister hängen haben, daneben eine Tafel mit Sätzen aus „Künstlers Apotheose“:

„Die Kunst bleibt Kunst! Wer sie nicht durchgedacht,
Der darf sich keinen Künstler nennen;
Hier hilft das Tappen nichts; eh’ man was Gutes macht,
Muss man es erst recht sicher kennen.“ —

und

„Die Tugend wohnt in keinem Mann allein;
Die Kunst hat nie ein Mensch allein besessen“ —

und eine andere Tafel mit den Worten der poetischen Sendung:

„Wenn And’re durcheinander rennen.
Sollst Du’s mit treuem Blick erkennen;
Wenn And’re bärmlich sich beklagen,
Sollst schwankweis Deine Sach’ fürtragen;
Sollst halten über Ehr’ und Recht,
In allem Ding sein schlicht und schlecht,
Frummkeit und Tugend bieder preisen,
Das Böse mit seinem Namen heißen,
Nichts verlindert und nichts verwitzelt,
Nichts verzierlicht und nichts verkritzelt,
Sondern die Welt soll vor Dir steh’n,
Wie Albrecht Dürer sie hat geseh’n,
Ihr festes Leben und Männlichkeit,
Ihre inn’re Kraft und Ständigkeit.“

Welche Freude, am ersten Morgen, wenn’s ans Arbeiten geht, von solchen Worten begrüßt zu werden! Welche Lehre, bei jedem Gedanken zu ihnen aufzublicken! Welcher Trost, sich mit ermattender Kraft an ihre Hilfe zu wenden! Aber — aber es geht nicht. Man denkt es sich so schön und es wirkt hässlich, so hässlich fast, wie jene Sprüche in den Trinkstuben und Ratskellern mit ihren Bändern und Schleifen. Es liegt hier also eine Aufgabe für die Künstler vor, die noch nicht gelöst worden ist: Mit Worten dekorativ zu wirken, ihre Buchstaben dem Auge so gefällig zu machen, als ihr Sinn dem Verstände gefällt. Dafür muss es eine Lösung geben, es kommt nur auf den Künstler an. Das Bedürfnis ist da, es stellt dem Künstler sein Problem — wie er es erfüllen wird, ist seine Sache. Schade, dass es keine öffentliche Stelle, keine Zentrale für künstlerische Sorgen gibt, wo der Laie einfach anzumelden hätte, was er braucht. Aber das wäre doch, müsste man meinen, eine Aufgabe für den unruhigen Fleiß unseres Alles versuchenden Koloman Moser!

Das ist die eine Frage: Kann man überhaupt mit Worten dekorieren? Eine Frage an die Künstler. In der Anregung des Franzosen steckt aber noch eine ganz andere, eine Frage an die Leiter der Nation, an die Erzieher des Volkes oder wie man das nennen will, was wir nicht haben. Nämlich: Warum sollen öffentliche Wände nur zu privaten Zwecken verwendet werden? Warum macht die Straße nur für Waren Reklame? Warum gibt sie ihre Flächen nicht lieber zu idealen Diensten her? Welch ein Mittel, die Menschen zu erziehen, sie sehen zu lehren, ihnen die Empfindung der Farbe zu geben! Man denke sich diese ungeheuren Flächen, die langen Mauern von Gärten entlang oder an den Ecken mit künstlerischen Darstellungen bedeckt, ja nur mit schönen, sich voll ausbreitenden, weithin wirkenden Farben bemalt — und das ganze Bild unserer Stadt könnte anders sein! Ich denke nicht an Fresken, nicht an Historien, sondern an manchen Wänden sollte man nur die Schönheit der Farbe wirken lassen, an anderen wären Tafeln für die Kinder anzubringen, etwa mit dem Märchen vom Rübezahl oder alten Wiener Sagen, von Friedrich König in seiner reinen, stillen, so innigen Weise illustriert, und dann wären auch wieder belehrende Tafeln, die Pflanzen unserer Flora darstellend, ganz genau, mit dem lateinischen Namen darunter, in einem Rahmen, der dieselben Pflanzen als Ornamente zeigt (damit die Leute endlich verstehen würden, was „Stilisieren“ ist), und so nach und nach Alles, Alles, was die Neugierde der großen und der kleinen Menschen reizen kann, etwa wie es auf jenen „Bilderbogen für Schule und Haus“ zu sehen ist — ja, jede Wand müsste ein solcher Bogen, und die ganze Stadt müsste ein einziges großes Bilderbuch sein! Soll bloß Der Schönheit haben dürfen, der sich ein Bild kaufen kann? Sollen wir immer erst ins Museum, um die Kunst zu finden? Wir wollen doch mit ihr leben!

Verlieren wir uns nicht! Dahin wird es wohl nie kommen. Ich meine aber doch, dass in dem Einfall des Franzosen vielleicht eine Anregung steckt, die irgendwie zu benützen man schon einmal versuchen könnte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bildung.