KULTUR

Betrachtet man die Gegenwart, so wird zuletzt immer die Klage laut, es fehle uns an Kultur; mag der Einzelne Schönes leisten, im Ganzen sind wir schlecht. Das ist ein Gefühl, das jeder hat, der nur ein bisschen über sich und über die anderen nachdenkt; jeder fühlt sich im Besten, das er will, durch die schlechte Zeit gehemmt. Er muss freilich zugeben, dass sie nicht ohne Avantagen ist; auf unsere Erfindungen sind wir stolz, in den Wissenschaften brauchen wir uns nicht zu schämen. Was ist denn also eigentlich so „schlecht“ an unserer verrufenen Zeit, da sie doch solche „Errungenschaften“ hat? Darauf hört man sagen, dass alles, was sie hat, ohne das, was ihr eben fehlt, nicht helfen und nichts wirken kann; es fehle ihr eben an Kultur, darum richten die besten Kräfte nichts aus, jeder vergeudet sich nur. Zeiten, die keineswegs unsere Mittel hatten und sich nicht einmal besonderer Männer rühmen können, scheinen uns doch der unsrigen überlegen, weil sie eben Kultur hatten. Es wird behauptet, dass es der Besitz von Kultur ist, der allein am Ende den Wert einer Zeit, ihre Bedeutung für die Menschheit und ihr Ansehen in der Geschichte bestimmt.

Wenn das wahr ist, und es in der Tat das ganze Unglück unserer Zeit ist, dass es ihr an Kultur fehlt, wenn es ohne sie um jede Mühe schade ist, wenn sie nur unsere Hoffnungen erfüllen kann, so müssen wir uns wohl Umsehen, wie wir denn zu ihr kommen könnten. Wir werden uns zu fragen haben, was denn Kultur eigentlich ist und, wie ein Volk zu ihr zu führen ist. Dieses scheint eine wichtige Pflicht der Zeit.


Oft hört man: Das Schöne in Italien ist, dass sogar die Bettler, die Vagabunden in ihren Fetzen noch Kultur haben. Was will man damit sagen? Was soll das Wort bedeuten? Offenbar sind damit keine Kenntnisse gemeint, nichts zu Erlernendes. Römische Bettler wissen nicht mehr als Berliner. Aber, heißt es, sie liegen so schön in der Sonne. Gibt es nicht Holsteiner oder Friesen, die gerade so schön sind? Gewiss, wenn man als Maler ihre Körper prüft. Aber das ist es nicht. Der Italiener braucht gar keinen schönen Körper, um schön in der Sonne zu liegen. Es scheint eher eine Schönheit der Seele zu sein. Er liegt so da, dass wir uns gleich an das Schönste erinnern, was sein Volk je geschaffen hat. Es stimmt dort alles so. Die Linie, die der schlafende Bettler hat, lässt uns dasselbe fühlen, was uns der Himmel dort und die Landschaft und die Kirchen sagen. Ob wir ein Mädchen lächeln sehen oder einen Dichter singen hören, wir vernehmen immer dasselbe: Alles stimmt. Das tut uns so wohl. Das ist es, was dem Friesen oder dem Holsteiner fehlt.

Dass alles stimmt, darin scheint die Kultur zu bestehen; jeder Gebärde des Einzelnen genügt es dann nicht, dem nächsten Zwecke zu dienen, sondern sie will auch immer sein ganzes Wesen, ja gleich das Teuerste und Heiligste seiner Nation ausdrücken. Es gibt zwei Arten, zu rudern. Der nächste Zweck ist, das Schiff zu bewegen. Wie muss ich mich anstellen, um mit der kleinsten Kraft den größten Stoß zu führen? Gelingt mir das, so darf ich sagen, dass ich rudern kann. Aber es ist möglich, dass mir das nicht genügt. Ich will noch mehr. Ich will nicht bloß das Schiff bewegen. Es ist mir ein Bedürfnis, was immer ich tue, dabei mein Wesen auszudrücken, die ganze Art meiner Existenz. Ich muss den Rücken so halten, wie es das Ruder verlangt. Ich will ihn aber auch so halten, wie es meiner Natur gemäß ist. Gelingt es mir nun, die Forderungen des Ruders und meiner Natur zu versöhnen, und ist meine Natur mit meiner Rasse in Harmonie, dann erst werde ich beim Rudern schön sein, so schön, wie ein römischer Vagabund in der Sonne liegt. Der Zuschauer wird sich dann sagen: erstens rudert er gut, das Schiff fliegt; zweitens rudert er so, dass ich mehr von seinem Wesen vernehme, als wenn wir eine Stunde geplaudert hätten; und drittens vernehme ich von ihm dasselbe, wie wenn ich Sechsschritt tanzen oder den dritten Akt der Hero sehe — es muss jemand von der guten alten Wiener Kultur sein.

Von Kultur werden wir in einem Lande sprechen dürfen, wenn jeder unbewusst die lebendige Beziehung, die seine Rasse zum Ewigen hat, in allem äußert, was er täglich tut. Wer im Scheine seiner sinnlichen Welt lebt und diese beim Wort nimmt, ohne zu ahnen, dass hinter ihr erst die Wahrheit sein kann, lebt in Unkultur dahin. Wo einer anfängt, den Schein, der ihn umgibt, als bloßen Schein zu fühlen, der etwas ganz anderes hinter sich verborgen hat, und dieses zu deuten, da fängt erst die Möglichkeit einer Kultur an. Sie entsteht, wenn eine ganze Nation ihre sinnliche Existenz auf das Ewige bezieht, eine Deutung gefunden hat, die ihr genügen kann, und nun jeden dieser Deutung in seinem Kreise dienen lässt. Was die Weisen erkennen, was die Künstler wie im Traum schauen, dasselbe wird dann der Bürger in seiner Tracht, der Knecht in seinem Gange ausdrücken und die Lieder der Dichter, die Linien der Tempel, der Schmuck der Hütten werden eine Sprache reden.

Betrachtet man das, so wird man einsehen, dass es undenkbar ist, Kultur durch Unterricht und Belehrung der Einzelnen zu gewinnen. Es wäre auch ganz unhistorisch. Historisch hat sich Kultur niemals so von unten hinauf geformt. Immer ist sie von oben herab geboten und anbefohlen worden. Weise haben das Verhältnis erkannt, welches ihrer Nation zum Ewigen gebürte; Künstler haben es in sichtbare Zeichen gebracht und jene Weisheit anschauen lassen. Nun wurde der Menge geboten, die Worte der Weisen und die Gestalten der Künstler mit Andacht zu empfangen. Mochte sic dabei auch noch kaum ahnen, was sie eigentlich hießen, unbewusst nahm sie doch ihren tiefen Sinn allmählich in alle Gebärden, ja in ihr ganzes Leben mit. Man erinnere sich, wie bei den Griechen das Volk „erzogen“ wurde. Den Weisen ist es dort nicht eingefallen, ihre teuren Gedanken in die Menge zu tragen. Sie hielten sie bei sich und Hessen nur die Schüler zu. Was sie gedacht hatten, gestaltete dann der Künstler; die Traumbilder, die er davon gab, standen auf den Straßen und die Menge wurde angehalten, sie zu verehren. Indem sie sie staunend und fürchtig betrachtete, lernte sie ihren Sinn fühlen und sich unter ihrer Macht bewegen. Die Weisen stellten die Philosophie, die sittlichen Pflichten, die ästhetischen Gesetze als Statuen auf jedem Platze auf, da konnte sie jeder arme Mann täglich sehen und nahm ihren Sinn an. Das ungeheure Problem der Tragödie, das wir noch immer nicht aussprechen können, haben sie dem Volke gesagt, indem sie in Delphi den Apoll sein Orakel mit dem Dionysos teilen ließen.

Anders können wir zur Kultur nicht kommen, als wenn ein Weiser das Verhältnis zum Ewigen erkennt, das uns gemäß ist, wenn Künstler es uns in Zeichen anschauen lassen und wenn Helden von großer Macht, welchen das Volk vertraut, die Verehrung dieser Zeichen gebieten. Wollen wir Kultur, so müssen wir zuerst wieder Weise, Künstler und Helden haben. So stößt die Zeit, wo man sie auch angehen mag, immer wieder den Byron’schen Ruf aus: I want a hero.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bildung.