EIN DOKUMENT DEUTSCHER KUNST

Nach der Eröffnung der ersten Ausstellung der Sezession, vor zwei Jahren in der Gartenbaugesellschaft, saßen wir Abends, die jungen Maler und ihre Freunde, fröhlich zechend beisammen, in einer wunderbaren Erregung, fast einem Fieber, wie man es wohl im ersten Frühling hat, wenn überall schon ein heftiges Verlangen, ein ungeheures Versprechen unter der Erde zu klopfen scheint. Noch zitterten wir vom Taumel des Kampfes, von der Lust des Aufruhrs und waren in einer seltsam erhöhten und beschleunigten Existenz, fast Schauspielern gleich, die aus wilden Szenen, in welchen sie ihr innerstes Leben hergegeben haben, nun wieder in ihre Garderobe abtreten und, noch dampfend, von Leidenschaften aufgewühlt, nicht sitzen, nicht schweigen können, sondern, mit ungeduldigen Schritten im engen Raume hin und her, immer noch sprechen, immer noch agieren müssen. Und so, Einer sich am Anderen immer noch mehr erhitzend und berauschend, schlossen wir unsere geheimsten Begierden auf, die sonst Jeder, eifersüchtig und schamhaft, bei sich verwahrt, die tiefsten Sorgen und Wünsche und Pläne. Da erhob sich Olbrich, der bis dahin gelassen im Tumult gesessen und, an einen Tisch gelehnt, mit hellen Blicken auf die Enthusiasten, sagte er in seiner kurzen, festen, gern etwas spöttischen Art: „Aber Kinder! Regt’s euch nur nicht unnötig auf! Das ist Alles noch gar nichts. Durch kleine Mittel kommen wir nicht weiter. Eine Stadt müssen wir erbauen, eine ganze Stadt! Alles Andere ist nichts!“ Wir horchten auf, Einer sah den Anderen an, fast erschrocken. Er aber fuhr fort: „Die Regierung soll uns, in Hietzing oder auf der Hohen Warte, ein Feld geben, und da wollen wir dann eine Welt schaffen. Das heißt doch nichts, wenn Einer bloß ein Haus baut. Wie kann das schön sein, wenn daneben ein hässliches ist? Was nützen drei, fünf, zehn schöne Häuser, wenn die Anlage der Straße keine schöne ist? Was nützt die schöne Straße mit schönen Häusern, wenn darin die Sessel nicht schön sind oder die Teller nicht schön sind? Nein — ein Feld; anders ist es nicht zu machen. Ein leeres weites Feld; und da wollen wir dann zeigen, was wir können; in der ganzen Anlage und bis ins letzte Detail, Alles von demselben Geiste beherrscht, die Straßen und die Gärten und die Paläste und die Hütten und die Tische und die Sessel und die Leuchter und die Löffel Ausdrücke derselben Empfindung, in der Mitte aber, wie ein Tempel in einem heiligen Haine, ein Haus der Arbeit, zugleich Atelier der Künstler und Werkstätte der Handwerker, wo nun der Künstler immer das beruhigende und ordnende Handwerk, der Handwerker immer die befreiende und reinigende Kunst neben sich hätte, bis die beiden gleichsam zu einer einzigen Person verwachsen würden! Das ist es, was wir brauchen. Das ist doch so einfach und klar, dass man es sofort begreift. Es muss nur Jemand mit dem Minister reden.“

Die Idee ließ uns nicht mehr aus. Was sind wir damals herumgerannt! Eine Stadt, eine ganze Stadt — damit wachten wir Morgens auf, damit schliefen wir Abends ein. Wir mögen den Leuten, die wir haranguierten, recht lächerlich vorgekommen sein. Welche Träumer, welche Phantasten! Wir konnten uns aber nicht denken, dass etwas Schönes unmöglich sein sollte. Aber dann kamen die Spötter. Lebt ihr denn im Märchen? Gibt es denn noch Wunder? Es ist doch wirklich schade um die Zeit! Da wurde Mancher kleinlaut und betrübte sich, nur Olbrich war lustig und lächelte. Er verlor den Glauben nicht. Es gibt solche unerschütterlich gewisse Menschen, und sie sind so stark, dass sie das Schicksal selbst an sich zu reißen und unter ihren Willen zu zwingen scheinen: denn siehe, das Wunder geschah, der Traum erfüllte sich, das Märchen wurde wahr.


Olbrich hatte kaum das Haus der Sezession fertig und seine ersten Einrichtungen, die Villa in der Brühl, das blaue Zimmer für Herrn Doktor Spitzer, den Plan eines kleinen Hauses in St. Veit gemacht, da wurde er, es ist eben ein Jahr her, plötzlich nach Darmstadt zum Großherzog Ernst Ludwig gerufen. Er kam strahlend zurück. Ich werde nie sein Gesicht und seine Stimme vergessen, die der Ruhige doch kaum zu beherrschen vermochte, als er mir in rapiden, abgehackten Sätzen atemlos erzählte, der Großherzog habe ihm von seiner Absicht, durch eine Verbindung von Kunst und Handwerk Hessen groß zu machen, fast mit ebendenselben Worten gesprochen, die wir so oft in stillen Stunden glücklicher Hoffnungen miteinander ausgetauscht, und ihm schließlich gesagt, er sehe, es gehe nicht anders, als dass einmal von einem Künstler eine ganze Stadt erbaut werden müsse; dies solle nun zur Ehre seines Landes geschehen. Es mag ein seltsames Gefühl für Beide gewesen sein, den jungen Fürsten und den jungen Künstler, die sich niemals zuvor gesehen hatten und doch durch dieselben seit Jahren in der Einsamkeit gehegten Ideen sogleich wie Freunde verbunden waren; und ich muss dabei immer an Benvenuto Cellini denken, wie dieser zum König von Frankreich kam. „Kaum hatte der König, berichtet Cellini, so viel Geduld, mich ausreden zu lassen, als er mit lauter Stimme sprach: „Wahrlich, in Dir habe ich einen Mann nach meinem Herzen gefunden!“ Er rief die Schatzmeister und befahl, sie sollten mir geben, was ich bedürfte, der Aufwand möchte so groß sein, als er nur wollte. Dann schlug er mir mit der Hand auf die Schulter und sagte: „Mon ami“ (das heißt: Mein Freund), „ich weiß nicht, wer das größte Vergnügen haben mag, ein Fürst, der einen Mann nach seinem Herzen gefunden hat, oder ein Künstler, der einen Fürsten findet, von dem er alle Bequemlichkeit erwarten kann, seine großen und schönen Gedanken auszuführen.“ Ich versetzte darauf, wenn ich Der sei, den er meine, so sei mein Glück immer das größte. Darauf versetzte er: „Wir wollen sagen, es sei gleich!““ Ist das nicht reizend, dass sich die Geschichte den Spaß macht, nach so vielen Jahren nun dieselbe Scene noch einmal zu wiederholen?

Seitdem ist erst ein Jahr vergangen; Olbrich ist erst sechs Monate in Darmstadt, und schon ist die Kolonie der Künstler gebildet, schon ihr Programm entworfen, schon (am 24. März d. J.) der Grundstein zu dem „Ernst Ludwig-Hause“ auf der Mathildenhöhe gelegt, das über dem Tor, als Motto einer freien und persönlichen Kunst, die Worte tragen soll, die ich vor Jahren geschrieben habe: „Seine Welt zeige der Künstler, die niemals war, noch jemals sein wird“*) (eine bequemere Art, unsterblich zu werden, kann man sich wohl nicht wünschen). Und eben jetzt versendet das Sekretariat der Kolonie den ersten Vorbericht über die großen Feste, die für das nächste Jahr in Darmstadt geplant sind: „Ein Dokument deutscher Kunst“ (verfasst von Wilhelm Deiters). So soll die Ausstellung von 1901 heißen, „eine Ausstellung fertiger Häuser, nicht gemalt oder im Diminutiv, nicht fragmentarisch, nein, nur komplette Häuser in Gottes freier Natur, richtige Häuser, fix und fertig eingerichtet vom Keller bis zum Speicher mit allem Zubehör, Alles modern, kein Quadratzentimeter unbenützt, bis auf das Kleinste, bis zum Stuhl und dem Geschirr, auf dem serviert wird, Alles künstlerisch durchdacht, neuzeitlich durchgeführt“. Ihre Idee hat Olbrich selbst in einem Aufsatz der „Deutschen Kunst und Dekoration“ ausgesprochen: „Auf Grundlage zeitgemäßen Kunstempfindens, in festen, unverrückbaren Formen eine Widerspiegelung moderner Kultur zu geben und damit einen Merkstein auf dem Wege der Lebensneuerung zu setzen — frei von allen Genossenschaften, frei von allem Respekt und Zwang gegen Kunstministerien, frei von jedem Streit ob Alt und Neu, vertrauend auf ein naiv empfindendes Volk und auf eigene Kraft, musste dieser Gedanke in einer Form erstehen, die nicht der heutigen gewohnten Art entspricht, sondern weit vorauseilt und Zukünftiges mit einschließt . . . . Ein weites, baum- und blumenreiches Terrain, die großherzogliche Mathildenhöhe, gibt den Plan. Oben am höchsten Streif soll das Haus der Arbeit sich erheben; dort gilt, gleichsam in einem Tempel, die Arbeit als heiliger Gottesdienst. Acht große Ateliers mit kleinen Meisterstuben, ein kleines Theater, Turn- und Fechtsäle, gastliche Räume, Duschen und Bäder sind in einem Langbau aufgenommen. Im abfallenden Gelände: die Wohnhäuser der Künstler, gleich einem friedlichen Ort, zu dem nach des Tages emsiger Arbeit von dem Tempel des Fleißes herabgestiegen wird, um den Künstler mit dem Menschen einzutauschen. Alle die Häuschen um ein Forum gruppiert mit eigenartig angelegten Wegen, Gärten, Beleuchtungskörpern, Brunnen und Blumenbeeten zur Einheit verbunden. Im Pläuschen selbst ein eigenartiges Wohnprinzip. Der große Raum (als Raum des Lebens) birgt alles Wohnliche. Dort soll Kunst in Fläche und Form vertreten sein, Musik gehört, Reden gewechselt, Gäste empfangen, schöne Stunden verlebt werden. Alles andere Raumgebilde betont mehr den Zweck in einfachster Schönheit. Das Schlafzimmer nur der Ort des Schlafes, einem ruhigen Abendlied gleichend, für Speise und Trank ein festlich fröhlich Trinkliedraum, das Bad als perlende Reinheit. Bis unter das Dach das Ganze eine Reihe von Stimmungen. Niemals dabei die Gebrauchsfähigkeit vergessend, stets bedacht, dass jedes Stück seinem Zweck entspreche, jedes die ihm zugewiesene Rolle zur Erreichung der beabsichtigten Wirkung vollendet vertrete.“ Dies Alles soll aber nur die „nächste Tat“, soll nur erst ein Anfang sein, von dem aus sie das ganze Leben umzugestalten gedenken — und so natürlich auch das Theater!

Die „stilistische Auffassung der Bühnenkunst, ausgehend vom Hoftheater in Darmstadt“, das ist der Punkt, der an dem ganzen Programm den Wiener am meisten interessieren wird. Der Maler Peter Behrens hat ihn so formuliert: „Die Malerei kann sich rühmen, den ersten Anstoß zu der Entwicklung eines neuen, unseren Empfindungen angepassten Stils gegeben zu haben; ihr schlossen sich an die Architektur und die Skulptur. Seit neuerer Zeit treten auch in der Dichtkunst die Bestrebungen zutage, auch dem Drama wieder nach langer Zeit des aufrichtigsten Naturalismus die stilistische Höhe früherer glanzvoller Zeiten zu geben. So ist es die natürliche Konsequenz, dass die bildende Kunst am heißesten den Wunsch empfindet, die Bühne mit neuem Geiste zu beleben, und in ganzer Bereitwilligkeit dem großen Ziele ihren Dienst anbietet, das Theater wieder dem Zweck entgegenzuführen, dessen Sinn die Griechen wohl verstanden hatten, den auch Goethe verlangte: dem Kultus des Schönen und des vorbildlichen Geschmackes.“ Einfacher gesagt: die moderne Malerei schickt sich endlich an, auch die Bühne zu betreten und sich einen neuen Styl der Schauspielkunst zu schaffen, wie sich vor zehn Jahren die moderne Literatur den ihren geschaffen hat. Es ist eigentlich sehr merkwürdig, dass das erst jetzt geschieht, und für uns ist es beschämend, dass es nicht in Wien geschieht. Würde man einmal eine Geschichte der Theaterdekoration in Österreich schreiben, so ließe sich leicht zeigen, wie alle Wendungen der europäischen Malerei, selbst wenn sie bei uns keine unmittelbaren Beispiele gaben, doch immer auf unsere Theater gewirkt haben. Das letzte Mal unter Dingelstedt: seine große Tat ist es gewesen, dass er die neue Art der Menschen, die vorher nur in Umrissen erblickte Welt jetzt farbig zu sehen, auf das Theater gebracht und Makart inszeniert hat. Aber dabei sind wir stehen geblieben; seitdem ist nichts mehr geschehen. Die ganze Welt hat sich erneut, nur unsere Ausstattungen nicht. Kein Tapezierer traut sich heute mehr, ein Zimmer makartisch auszuschmücken, nur im Burgtheater wird das „Käthchen von Heilbronn“ immer noch makartisch gespielt. Kleist und Makart! Aber dann wundert man sich, dass die Schauspieler keinen neuen Styl finden können, der doch auf diesem Hintergründe nicht möglich ist! Geben wir ihnen Dekorationen, die unseren Stil haben, und sie werden ihn von selbst annehmen müssen, durch die Macht der Umgebung bezwungen, ohne dass sich erst ein Regisseur mit absurden Einfällen abzuquälen braucht! Welche Aufgaben für unsere Maler! Man denke sich Kleist von Hans Schwaiger, Grillparzer von Klimt oder Stöhr, Bauernfeld von Koloman Moser inszeniert! Wenn wir schon immer jammern, dass wir keine Schauspieler mehr haben, Maler haben wir doch!

Wenn nun in Darmstadt Alles gelingt, wie es besprochen und geplant ist, und also im nächsten Jahre dort etwa ein Schauspiel unseres Hofmannstal von unserem Olbrich ausgestattet und vielleicht noch gar von irgend einem Wiener, der auf einer Wiener Bühne das Metier erlernt und von der Wiener Malerei den Geist empfangen hat, inszeniert wird, was wird das Resultat sein? Dann wird Darmstadt den Deutschen eine neue Schauspielkunst geben. Die Darmstädter werden ein Muster werden, wie es einst die Meininger gewesen sind. Überall wird man ihnen nachfolgen müssen. Und dann, wenn sie dann vielleicht in fünf oder zehn Jahren einmal bei uns gastieren, werden die ganz Gescheiten in unseren Kaffeehäusern sagen, die Köpfe schüttelnd: „Schau! sogar das kleine Darmstadt! Nur in Wien geschieht gar nichts — in Wien gibt’s halt keine Talente!“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bildung.