DIE KLEINEN

Bei Reclam*) ist jetzt ein Bändchen erschienen, die Briefe enthaltend, die der jüngere Heinrich Voss in seiner Weimarer Zeit an Freunde geschrieben hat. Über seinen Verkehr mit Goethe und Schiller spricht er sich in einer herzlichen, ein bisschen geschwätzigen, manchmal recht einfältigen Art und nicht ohne eine wunderliche Gravität aus. Den Zauber ihres gewaltigen und reinen Wesens lassen gerade diese Schilderungen eines Pedanten mit unbeschreiblicher Macht vernehmen. Wir dürfen ihrem milden Walten Zusehen, wie es täglich war. Wir sehen Goethe, wenn er lustig ist, noch eine besondere Flasche holen und der Nachbarin ein Küsschen entwenden; oder er liegt in seinem weißen, über der linken Schulter ein klein wenig zerrissenen Nachtjäckchen auf seinem Zimmer und liest mit seiner großen weichen Stimme vor. Wir sehen Schiller auf der Maskerade mit Studenten zechen, bis der graue Morgen kommt und der „unendlich teure Herr Hofrat“ einen bedenklichen Spitz hat; oder er kriecht auf dem Boden mit seinem Knaben, dem kleinen Karl herum und sie spielen Löwe und Hund In dieser lässigen Art, sich der Minute hinzugeben, wird erst ihre ganze Größe offenbar und wir fühlen, dass es das Höchste ist, aus seinen Verzückungen und Ekstasen einen Schimmer in die tägliche Existenz zu bringen. Momente der Erleuchtung mag jeder einmal haben; aber nur, wer die Kraft hat, ihre Geschenke zu bewahren und mit sich durch das Leben zu tragen, ist groß.

*) Goethe und Schiller in Briefen von Heinrich Voss dem jüngeren. Briefauszüge in Tagebuchform, zeitlich geordnet und mit Erläuterungen herausgegeben von Dr. Hans Gerhard Graf. Leipzig; Verlag von Philipp Reclam jun.


Der gute Heinrich Voss hat Goethe schon als Knabe gesehen, als Student ist er in Jena gewesen, seit 1804 wurde er Lehrer der alten Sprachen am Gymnasium zu Weimar. Besondere Gaben hatte er wohl nicht. Diese braven Leute, die wir bei Goethe finden, sind alle mehr durch ihren guten Willen als durch irgend eine Kraft bemerkenswert. Wir wundern uns eigentlich, dass Goethe in ihrer Nähe nicht manchmal ungeduldig geworden ist; aber er hatte die Maxime, „jeden Menschen in seiner Haut zu lassen“. Mit einer unbegreiflichen Güte sehen wir ihn sich zu diesen mühsamen und unvermögenden Menschen aufs liebreichste neigen; es ist rührend und doch nicht ohne leisen Verdruss wird man denken, wie viele Stunden seines teuren Lebens der Große an die Kleinen hingegeben hat. Warum hat er das getan?

Wir wollen den Fall Plessing betrachten. Man erinnert sich, wie er ihn in der Campagne erzählt. Er bekommt eines Tages, von Wernigerode datiert, Plessing unterzeichnet, ein Schreiben, vielmehr ein Heft zugesendet, in dem ein problematischer Jüngling sich abquält und bei guten Anlagen und den besten Absichten doch zu keiner inneren sittlichen Beruhigung gelangen kann. Der frische und herzliche Ton weckt seinen Anteil, wenn er sich auch manchen bedenklichen, ja unangenehmen Zug nicht verhehlen kann. „Da ward mir denn nach jenem Zeitsinn der Wunsch lebhaft rege, diesen jungen Mann von Angesicht zu sehen; ihn aber zu mir zu bescheiden, hielt ich nicht für ratsam. Ich hatte mir unter bekannten Umständen schon eine Zahl von jungen Männern aufgebürdet, die, anstatt mit mir auf meinem Wege einer reineren höheren Bildung entgegenzugehen, auf dem ihrigen verharrend sich nicht besser befanden und mich in meinen Fortschritten hinderten. Ich ließ die Sache indessen hängen, von der Zeit irgend eine Vermittlung erwartend. Da erhielt ich einen zweiten kürzeren, aber auch lebhafteren, heftigeren Brief, worin der Schreiber auf Antwort und Erklärung drang und sie ihm nicht zu versagen mich feierlichst beschwor. Aber auch dieser wiederholte Sturm brachte mich nicht aus der Fassung; die zweiten Blätter gingen mir so wenig wie die ersten zu Herzen, aber die herrische Gewohnheit, jungen Männern meines Alters in Herzens- und Gewissensnöten beizustehen, ließ mich sein doch nicht ganz vergessen.“ Man liest nun, wie er bald die Gelegenheit wahrnimmt, als eine Jagdpartie auf wilde Schweine unternommen wird, sich von der Gesellschaft zu trennen und auf der anderen Seite allein durch den Harz nach Wernigerode zu reiten, wo es ihm denn nicht schwer wird, seinen Herrn Plessing als den Sohn des Superintendenten zu finden, für seinen Fleiß im Städtchen geschätzt, aber wegen seiner finsteren Laune und eines unfreundlichen Betragens getadelt. Goethe gibt sich nicht zu erkennen, sondern stellt sich als Maler vor und will nun in dieser Rolle das Leiden des aufgeregten Jünglings beschwichtigen und heilen. Er rät ihm, sich aus einem schmerzlichen, selbstquälerischen, düsteren Seelenzustand durch Naturbeschauung und herzliche Teilnahme an der äußeren Welt zu retten. Aber diese Hilfe weist Plessing ab, alle „propädeutischen Wendungen“ sind umsonst. Die beiden Männer scheiden friedlich und schicklich, doch ist Goethe entschlossen, den Jüngling nicht wieder zu sehen und kann auch später, als dieser nach Weimar kommt, „sein heftiges Begehren nach leidenschaftlicher Freundschaft und innigster Verbindung nicht erwidern.“ Er unterlässt es nicht, ihm einige reelle Dienste zu leisten, aber er nimmt sich seiner nicht mehr an; ja die Bücher, die ihm der junge Verfasser zuschickt, mag er nicht einmal lesen, er ist fertig mit ihm.

Diesen Fall Plessing muss man nachdenklich betrachten, wenn man Goethe verstehen und seine Absichten mit den Kleinen einsehen will. Welche Güte! Er reist zu einem fremden Menschen hin, der ihm doch nichts geben kann, und ist bereit, ihm zu helfen. Er will sich um ihn bemühen, wie er sich um Voss und Eckermann bemüht hat. Hätte er an dem Jüngling einen guten Willen und jene Sehnsucht nach dem Schönen gefunden, so hätte er ihn in seine Welt geführt und nicht abgelassen, ihn sanft gewaltsam mit sich zu ziehen. Aber als er ihn trotzig und von unreinem Wesen findet, wendet er sich von ihm ab. Das hat er nicht ertragen können; „Leidenschaft, Verworrenheit, dumpfes Treiben“ hat er gehasst. Dieser Plessing ist gewiss „interessanter“ als der bedächtige Eckermann und der scheue Voss gewesen. Aber Goethe hat von den „interessanten“ Menschen nichts gehalten. Man erinnere sich, wie er Kleist liegen ließ, weil er unrein und ohne Ordnung war, und man lese nach, was er über Tycho de Brahe geschrieben hat: „Einen von den beschränkten Köpfen, die sich mit der Natur gewissermaßen im Widerspruch fühlen und deswegen das komplizierte Paradoxe mehr als das einfache Wahre lieben und sich am Irrtum freuen, weil er ihnen Gelegenheit gibt, ihren Scharfsinn zu zeigen.“ Mit der Natur entzweite Menschen hat er nicht ausstehen können. Helle, klare Wesen wollte er bei sich haben. Diese hat er, wie unkräftig und gering sie waren, auf das innigste gehegt. Er hat eben nicht auf das Einzelne gesehen, sondern dem Ganzen dienen wollen. Er wollte eine Kultur um sich schaffen; das scheint ihm sogar wichtiger gewesen zu sein als seine Schauspiele oder Verse, sonst hätte er von diesen nicht oft so merkwürdig gelassen gesprochen. Das Werk hat ihm nicht viel gegolten, aber er hat getrachtet, Menschen zu bilden, die seinen Geist aufbewahren könnten. Was würde denn die Tat des Größten vermögen, wenn sich nicht ihr Sinn, ihr Wesen den Anderen mitteilen, unter ihnen fortwirken und bei ihnen bleiben kann? Deswegen hat er die Kleinen so geliebt, weil sie Träger und Leiter von Kultur sind.

Er hat einmal an die Stollberg geschrieben: „Bleibt uns nur das Ewige jeden Augenblick gegenwärtig, so leiden wir nicht an der vergänglichen Zeit.“ Das ist ihm das Wichtigste gewesen: das Ewige soll den Menschen jeden Augenblick gegenwärtig bleiben. Er wünschte, dass immer das Schöne auf Erden geschehen soll, und wenn die gewöhnlichen Leute ihren Verrichtungen nachgehen, soll es doch im Licht der Ewigkeit sein. Das nennen wir Kultur. Aber wie können wir sie zu den Menschen bringen? Im tiefen Walde stehen die großen Künstler als herrliche Brunnen der Ewigkeit da; es ist schön, wie sie brausen und sprudeln, aber die Quellen fallen zur Erde hin und verrinnen. Wir möchten sie in treuen Gefäßen, Eimern oder Röhren auffangen und bewahren, damit dann die armen Leute herbeikommen und sich zum Segen anspritzen können. Stehen solche Becken oder Vasen der Schönheit im Lande, dann kann das Volk hingehen und sich sein Labsal schöpfen. Als solche Vasen hat Goethe die Kleinen hinstellen wollen. Die törichten Menschen des bloßen Verstandes können das nicht verstehen. Sie lachen ihn aus, dass er sich mit Kleinen umgeben hat, und begreifen nicht, dass er sie brauchte, um durch sie in die Nation zu rinnen.

Was Goethe damals in Weimar wollte und was später edlen Jüdinnen in Berlin gelang, das möchten wir jetzt in Österreich versuchen. Vielleicht geht es noch nicht; es kann sein, dass die Zeit noch nicht gekommen ist. Nun, dann werden wir doch in einem schönen Wahn gelebt haben. Wir möchten, dass unsere Nachkommen eine österreichische Kultur vorfinden sollen. Darum fragen wir in den guten Zeiten der Menschheit nach, hören ihre Taten und Werke an und wollen aufnehmen, was jemals groß gewesen ist. Seine Gefäße wollen wir sein, das Volk soll aus uns schöpfen können. Größer können wir uns nicht machen, als wir sind, aber verzagen wir nicht: in unserer Not können die Kleinen, sich redlich bemühend, Wunder wirken.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bildung.