BEI GOETHE

Unsere Jugend ist jetzt bei Goethe angekommen. Einen nach dem anderen der neuen Autoren sehen wir zu ihm gehen, flehentlich heben sie die Hände auf. Otto Erich Hartleben hat sein Goethe-Brevier geschrieben, von Hauptmann weiß man, dass er es liebt, in der letzten Weise Goethes zu reden, und unsere Wiener sind schon verspottet worden, weil sie, manchmal nicht ohne eine gewisse Pedanterie, sich goethisch zu betragen so beflissen sind. Seine teure Gestalt steht über unserem ganzen Sinnen und Trachten. Jeder kommt zu ihm, um sich seine Worte zu holen. Bei ihm beruhigen wir unsere Zweifel, unsere Hoffnungen bestätigen wir uns bei ihm.

Aber nun tritt ein junger Mann auf, Herr Franz Servaes, und sagt sich öffentlich von Goethe los. Dies scheint der Sinn der merkwürdigen Broschüre „Goethe am Ausgang des Jahrhunderts“*) zu sein. Sie ist in der unruhigen, enthusiastischen, immer aufgeregten Art des Autors geschrieben, der sich niemals genug sagen kann; Ordnung fehlt ihm, er lässt sich von jedem Gedanken ins Weite verlocken, springt hin und her, will nicht verweilen, seine Rede hat keinen Ductus. Doch fühlt man, dass ihm jedes Wort aus dem Herzen kommt; es ist ihm immer ernst um seine Sache. In diesem Hefte scheint er sogar das Beste seiner Natur oder was ihm doch am wichtigsten ist, mit Leidenschaft zu verteidigen. Ja, das ist das Wort: verteidigen will er sich und will seine Existenz gegen Goethe behaupten. Hören wir an, mit welchen Gedanken er es tut.


*) Berlin. S. Fischer, Verlag. 1897.

Das eigentlich Goethische ist ihm die Bändigung des Dämonischen. Sein ganzes Leben sieht er „als ein großartiges Ringen mit dem Dämon“ an: „Ihn niederzuzwingen und ganz seinem höheren Selbst gefügig zu machen, das war das heißerstrebte Ziel. Es wurde niemals völlig erreicht, aber doch so sehr, als es menschlicher Kraft überhaupt möglich ist. Bis schließlich die Alterskühle die Ringerglut kühlt und der greise Recke mit seinem Dämon gleichsam behaglich schalkhaft plaudert . . . Wenn wir dem Urphänomen der Goetheschen Gesamtentwicklung getrost ins Auge blicken, so werden wir sagen dürfen: es bedeutet eine fortgesetzte Entwertung. Den Geist Werthers sucht Goethe in sich los zu werden, das heißt weniger den Geist der Gefühlszerflossenheit und Sentimentalität — der war im Grunde ziemlich rasch überwunden — als vielmehr den Geist der Zügellosigkeit und quälenden Sinnlichkeit. Der aber steckte tief in seiner Natur. Er war sein Dämon.“ Nun wird dargestellt, welche Mächte er gegen jenen ausschweifenden Drang angerufen hat: die gute Sitte und die Sehnsucht nach dem universalen Menschen. Der guten Sitte hat er im Egmont ein Denkmal gesetzt: „Indem hier, durch die leichte und glatte Beherrschung der guten Form, das Dämonische der ursprünglichen Naturanlage doch immer noch hindurchblitzt, äußert es sich als unwiderstehlicher Zauber der Persönlichkeit, als eine suggestive Gewalt, die Menschen und Herzen und beinahe das Schicksal zwingt. Es ist das die Dämonie der Liebenswürdigkeit, die aber nur dann zum Ausdrucke kommen kann, wenn die wilden und ungestümen Triebe zwar da sind, jedoch der Idee einer schönen Menschlichkeit sich gehorsam untergeschmiegt haben.“ Den universalen Menschen hat er von den Griechen genommen: das klassische Ideal hat ihn gelehrt, aus der Verworrenheit trüber Wünsche nach der helleren Region der Zucht und Mäßigung zu streben. So ein Streit des Dämonischen mit der Sitte ist sein ganzes Wirken gewesen. „Soviel Bedrohliches seine Natur auch im Keime enthielt, soviel Quietistisches, Beharrendes bot sie auf der anderen Seite.“ Dass dieses doch zuletzt zum Siege über jenes gekommen ist, das soll nun das eigentlich Goethische sein. Ist es unserer Kultur nützlich gewesen? Nun, „wir sehen heute diese Saat Goethes aufgegangen in üppiger Blüte: der Philister führt das große Wort in Deutschland.“ Das ist das Ende, wenn man das Dämonische an die Kette legt! Es erschreckt Servaes so, dass er sich beeilt, gegen den harmonischen Typus des Goethischen einen heroischen Typus des modernen Künstlers zu erheben. Er ruft vier Männer an, denen es gemein sei, ungoethisch zu sein, Beethoven, Kleist, Schopenhauer und Nietzsche: „Der heroische Künstler strebt keine Versöhnung mit der Welt an. Er wirft der Welt den Fehdehandschuh hin und will lieber an ihr zugrunde gehen als sich vor ihr beugen . . . Man muss derartige Gegensätze natürlich ohne Moralität betrachten. Es sind Temperamentsunterschiede, nichts anderes. Und jedes ausgesprochene, in sich selbst ruhende Temperament erweist sich in seiner Weise fruchtbar.“ Er will also nicht sagen, sein Typus, der des tragischen Künstlers, der „Gegentypus“, wie er ihn nennt, sei besser oder edler. Nein, er behauptet nur, dieser habe gesiegt und beherrsche die Heutigen. „Die Harmonie der Welt ist zerstört. Ihr Traum wurde zum letztenmal geträumt von einem Halbgott und der hieß Goethe. Die armseligen Schlucker, die ihn ihm nachträumen möchten, kommen entwicklungsgeschichtlich nicht in Betracht . . . Goethe, der den Geist Werthers in sich selber besiegt hat, ist nach seinem Tode vom Geiste Werthers besiegt worden. Ein neuer Mensch ist auf den Plan getreten, von dem Werther ein erster Vorläufer war. Und dieser neue Mensch richtet sich ein, die Welt zu beherrschen und lebend auf dieser Welt zu verharren. Eine ungetrübte Harmonie zwischen ihm und der Welt ist unerringbar.“ Das ist das Resultat der Broschüre: weg von Goethe, sein Verhältnis zum Leben kann nicht das unsere sein. „Auf Goethe blicken wir zurück, wie auf eine versunkene Welt der Schönheit, Kraft und wundersamen Harmonie. Auf seiner seligen Insel hin und wieder zu landen, das wird uns eine oft begehrte Stärkung sein. Im übrigen müssen wir es zu ertragen wissen, dass uns die Insel nicht Kontinent sein kann.“

Es hat gar keinen Sinn, über solche Dinge zu streiten. Sie sind keine Sache der Vernunft, die man beweisen könnte, sondern der Empfindung, die immer recht hat Wer ohne Goethe leben kann, mag es versuchen; auch soll er glauben, sehr modern zu sein — das kann man ihm gönnen. Wir hier in Wien sind der Meinung, dass es mit dem Dämonischen nicht soviel auf sich hat, lieber wollen wir dem Apoll huldigen. Goethe dienen zu dürfen, sehen wir als das Höchste an; wir möchten, dass ein Strahl von ihm auf uns falle. Wer unter uns klein ist, wird es ja durch Goethe nur zum Philister bringen, da hat Servaes schon recht, das spüren wir auch. Aber wir meinen: lieber reine Philister sein als interessante Phantasten, die immer im Streit mit Gott bleiben. Nein, ob wir groß werden oder klein sind, das liegt nicht in unserer Macht Aber zur Ordnung in uns möchten wir kommen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bildung.
Goethe, Johann Wolfgang von (1749-1832) Dichter und Universalgelehrter

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