Dritte Fortsetzung

Wie reich und mannigfaltig der Inhalt dieses kleinen Gefährten war, mag auch daraus hervorgehen, dass er unter der Überschrift „Arzneibüchlein" eine Reihe Rezepte bietet. Neben sonst wohl Verständigem findet sich doch auch wunderliches Zeug, und da im neunzehnten Jahrhunderte in Sachen medicin auch der größte Blödsinn seine Verehrer findet, so wollen wir im Interesse jener starkgläubigen leidenden Menschheit folgendes Mittel „für (?) die Schwindsucht" hier notieren: „Siede in des Patienten Urin ein Ei und lege es geschält in einen Ameisenhaufen, die Schale auch dazu. Wenn die Ameisen das Ei gefressen, so wird der Patient wieder gesund." —

Dass man auch in alter Zeit das Nützliche mit dem Angenehmen, das rein praktischen Zwecken Dienende mit dem Belehrenden und Unterhaltenden zu verbinden wusste, davon gibt der „getreue Gefährte" ebenfalls Kunde, — nur dass die Form in unseren Tagen etwas davon abweicht. Um nicht gegenüber den Erben des seligen Christian Gotthilf Hofmann in Waldenburg in den Geruch eines Plagiarius zu kommen, will ich, so leid es mir tut, mich nur auf die Mitteilung eines zu dem unterhaltenden Teile gehörenden kleinen Satzes beschränken, welcher die Überschrift trägt: „Besondere Türme". „Der Ulmer Münsterturm ist 234 Fuß hoch, das Fundament ist 464 Schuhe tief, dabei 69 Schuhe breit. Zu Meißen ist ein bis zum Knopf ausgehauener. Zu München ist einer, so oben und unten spitzig. Zu Bingen im Rhein ist der Mäuseturm. Zu Jena der berühmte Fuchsturm. Zu Schartsfeld will das Gespenst kein Dach darauf leiden. Zu Grein ist der Teufelsturm." —


Den wenigen Exemplaren, welche ich von dem „getreuen Gefährten" auftreiben konnte, war merkwürdiger Weise jedesmal am Schluss noch ein aus ein paar Blättern bestehendes Büchlein besonders beigebunden, wie man dasselbe ganz in derselben Art und Form heute noch auf den Jahrmärkten zu kaufen bekommt, — ein sogenanntes Punktierbüchlein. So hätten wir denn in unmittelbarer Nähe christliche Erbauung und Punktiererei nebeneinander. Unwillkürlich wird man an die fratzenhaften Gestalten des Teufels an den Kirchen des Mittelalters erinnert. Allein die tiefsinnige Idee der deutschen Baumeister hatte sich bei unserem Waldenburger in eine Spekulation der Neuzeit umgewandelt. Er ließ jedem Exemplare seines „Gefährten" das Punktierbüchlein beibinden, um jenen um einen Groschen teurer verkaufen zu können. Es ist wahr, in Ladestädten oder auf Stapelplätzen, wo viele Kärrner zusammenkamen, hat sich junges Fuhrmannsvolk zuweilen mit Punktieren einen Scherz erlaubt. Das Fuhrmannswesen selbst aber stand in keiner Beziehung zum Punktieren. Der Sinn des Kärrners war viel zu nüchtern und zu verständig, um der Punktierkunst Glauben zu schenken. Damit soll freilich nicht gesagt sein, als ob nicht auch im Kärrner und späteren Fuhrmann ein Stück Aberglauben gesteckt habe. War der Kärrner im Begriff, die Reise anzutreten, und war er, wie jeder „richtige Fuhrmann" heute noch tut, mit den Worten: „Mit Gott!" unter einem einmaligen Schnalzen oder Klatschen mit der Peitsche abgefahren, dann sah man es gern, wenn das Erste, was über die Straße kam, ein Mannsbild war; denn das bedeutete Glück und Segen. Kam aber eine schwarze Katze über den Weg gelaufen oder — ein Frauensbild und namentlich ein Weib, welches mit einer Butte Wasser vom Brunnen zurückkehrte, so verfinsterte sich das Gesicht des Kärrners; denn nun war's unabwendbar, dass die Reise nicht zum Wohle gedeihen konnte. Wie man beim Abfahren wohl schnell nach einem Stein griff, um der vorüberlaufenden Katze den Weg abzuschneiden, so geschah dies auch draußen im Freien, wenn der unschuldige Lampe über den Weg setzte. Ja, es wurde selbst von einem gewissen Peitschenrechte gemunkelt, vermöge dessen der Kärrner oder Fuhrmann eine Frauensperson, die dicht vor dem Geschirre beim Abfahren den Weg überschreiten wollte, etwas handgreiflich zurückweisen durfte. Doch gab es auch Personen, welche „Verstand" genug hatten, so lange mit der Überschreitung des Weges zu warten, bis der Karren oder der Wagen vorüber war. —

Es ist bekannt, dass diejenigen Seeleute, welche zum ersten Male die Linie passieren, unter gewissen Zeremonien in die Geheimnisse Neptuns eingeweiht werden und dass dabei der alte Satz gilt: Auf ein Leid folgt ein' Freud'. Für die Kärrner wie für die späteren Fuhrleute Deutschlands war die Linie „Nürnberg". Hier, in dieser alten Metropole des Fuhrmannswesens, wo Schwank und Scherz in derber Weise seit alter Zeit im Flor waren, wurde an dem jungen Fuhrmann, der zum ersten Male durch die Tore der alten Reichsstadt seine „Rösslein" führte, der Ritterschlag vollzogen. Auch geht jetzt noch in alten Fuhrmannsorten die Sage, dass nach Vollzug der uralten Zeremonien ein weidliches Tournier stattgefunden habe, bei welchen gar mancher Kumpan in den Sand gestreckt worden sei. Die Sache selbst aber verhielt sich also:

Wer zum ersten Male als Fuhrmann nach Nürnberg kam, gleichviel ob er im schwarzen Krug oder im weißen Ross, im Engel oder im Schlüssel, im Sternhof oder im grauen Wolf oder in einem anderen der vielen Fuhrmannsgasthöfe ausspannte, musste, altem Herkommen gemäß, sobald das gemeinschaftliche Abendessen für die Fuhrleute aufgetragen war, den untersten, nach der Stubentür zugekehrten Stuhl an der Tafel einnehmen. War das Essen so ziemlich zu Ende, so legten sich um den Hals des schüchternen Neulings urplötzlich zwei hölzerne Ringe in der Form eines Halseisens, die sich als die vorderen Glieder einer mehrere Ellen langen hölzernen Zange erwiesen, welche der Wirt oder in Ermangelung desselben ein junger adretter Fuhrmann, der sich hinter dem Delinquenten verstohlener Weise aufgestellt hatte, unter schallendem Gelächter der bis dahin ernsten und stummen Fuhrleute gewandt zu handhaben wusste. Hierauf wurde dem Gefangenen in wohlgesetzten Worten zu verstehen gegeben, dass man sich freue, ihn in Nürnberg zu sehen, wo bis jetzt jeder richtige Fuhrmann durch die Taufe in die Geheimnisse des Fuhrmannswesens eingeführt worden sei. Es stehe auch, so wurde weiter fortgefahren, soweit nichts im Wege, auch an ihm, den Umhalsten, die Taufe zu vollziehen und ihm besagte Vorteile zuzuwenden, und es komme nur auf ihn an, ob er nach altem Brauche einen Kindstaufeschmaus ausrichten und derohalben sich Paten erwählen wolle. Unterstützt von seinen Landsleuten, unter denen sich wohl selbst der Vater und auch Brüder und Vettern befanden, bat der noch Uneingeweihte um Aufnahme in die große Brüder- und Kameradschaft deutscher Kärrner und Fuhrleute und erwählte sich unter den anwesenden Gästen drei Paten, von denen ein jeder ihm zu immerwährendem Andenken einen auf seinen Beruf bezüglichen Spruch erteilte, welcher, wenn er von älteren Fuhrleuten ausging, meist ernsteren Inhaltes war, während jüngere Paten unter Beobachtung ernster Gesichtszüge gern eine Zweideutigkeit mit unterlaufen ließen. Nunmehr verkündigte der immer noch in der Zange Gehaltene, wie viel Flaschen Wein er zum Besten geben wolle, und lud' seine sämtlichen „Paten und Kollegen" zu seinem Ehrentage ein. Nachdem die Paten hierauf der Reihe nach ihre Patengeschenke, in so und so viel Flaschen Wein bestehend, ebenfalls den Versammelten bekannt gegeben hatten, löste sich das Halseisen der Zange und gab dem jungen Fuhrmann seine Freiheit wieder. Deshalb sagte man: „Er muss sich lösen."

Noch aber war die Zeremonie des Ritterschlags nicht vollendet, noch wurde keine Flasche entkorkt, vielmehr öffnete der Wirt neben der Stubentür einen Schrank und nahm aus demselben ein großes Buch, welches nur bei solcher Feierlichkeit gesehen ward, sonst aber immer unter gutem Verschluss blieb. Hierauf stellte sich der Wirt, das große Buch auf der Tafel aufschlagend, dem jungen Fuhrmann gegenüber und befahl ihm, aufzustehen, unverwandten Blickes auf ihn — den Wirt — aufzumerken auf das, was ihm jetzt zum ersten Male in seinem Leben von alten Weißtümern, Ordnungen und Gebräuchen des Fuhrmannswesens vorgelesen werden solle. Unter lautloser Stille aller Anwesenden, welche ihre Gesichter in ernste Falten legten, begann der Wirt hierauf also: „Beim Anfahren an einem Wirtshause soll der Fuhrmann nur einmal klatschen!" — Das letzte Wort dieses Gebotes wurde aber trotz der kräftigen Stimme des Wirts nicht gehört, denn in demselben Augenblicke schwang die Wirtin eine mächtig lange Peitsche, welche inzwischen heimlich aus dem erwähnten Schranke, ihrer gewöhnlichen stillen Behausung, die sie mit der hölzernen Zange teilte, herbeigeholt worden war, und schlug unter herzerschütterndem Lachen der Gäste unserem jungen Kärrner oder Fuhrmann so unbarmherzig auf seine Hinteren Fleischteile, dass dieser ganz erschrocken sich umwandte, ein klägliches Ach und Weh ausstieß und mit den Händen nach der schmerzenden Stelle griff, um auch diese die Bekanntschaft der Peitsche machen zu lassen. Hatte sich inzwischen der Tumult wieder etwas gelegt, so bedeutete der Wirt dem jungen Fuhrmann, dass diese kleine Erschütterung zur Kräftigung des Gedächtnisses nötig sei und dass man ein altes Herkommen nicht abändern dürfe. Unter der Versicherung, dass er von nun an nichts mehr zu befürchten habe, wurde der zweite Punkt unter allgemeiner Stille verlesen, dem natürlich wie allen folgenden beim letzten Worte zur Bekräftigung wieder eine Peitschenfanfare unter homerischem Gelächter der Fuhrleute nachfolgte. Dieses Siegel- oder vielmehr Peitschenamt ging, wenn die Wirtin nicht zur Stelle war, auf den Hausknecht über, der — im Vertrauen gesagt — meist vorher durch ein klingendes Stück Geld „gestimmt" wurde, so dass er bei Ausübung seines Amtes oft einen humaneren „Zug" an den Tag legte, als die dicke Fuhrmannswirtin. —