Eine Brennerfahrt

Der heimkehrende Tiroler. — Reisegesellschaft. — Das Mittelgebirge. — Silltal. — Anblick des Stubaitals. — Steinach. - Wasserscheide. — Sill und Eisack. — Charakter der Gegend. — Sterzing. — Festungsbau. — Brizen. — Reiche Vegetation.

Die ersten Morgenstrahlen vergoldeten die oberen Stockwerke der Häuser, indessen der untere Teil noch im Schatten lag und sich nur selten ein Mensch in denselben sehen ließ, als ich durch die stillen Straßen wanderte, um mich nach der Neustadt zu begeben und meinen bestellten Platz auf dem Stellwagen nach Botzen einzunehmen. Es mochte etwa halb fünf Uhr sein. Da noch schauerliches Dunkel sich in den tiefen Laubgängen verhielt, ging ich auf der Mitte der Straße, hier und da einem Weibe begegnend, welches eine Kuh oder Ziege von einem der benachbarten Viehhöfe führte, um sie gleich auf Verlangen der Vorübergehenden oder der in der Hausflur Wartenden zu melken. Geräuschvoll dröhnte der regelmäßige Schritt der an einigen Gebäuden auf und ab gehenden Schildwachen und schon von weitem ließ mich Pferdegetrappel den Ort erkennen, wo eben der Stellwagen eingespannt wurde. Mehrere Koffer und Reisetaschen verrieten, dass der nur sechssitzige Wagen sehr gefüllt werden würde, und schon war ich im Begriff, einzusteigen, um als Erstgekommener den möglichst besten Platz zu beanspruchen, als mich der Kutscher mit der Frage zurückhielt, ob ich einen Liniepassierschein habe. Da diese mir damals unbekannte, aber notwendige Bescheinigung fehlte, ich aber ohne dieselbe nicht durch die äußere Stadtbarriere fahren durfte, so bedeutete mich der Pferdebändiger, wie auch einen andern Herrn, dem ein Gleiches widerfahren, unser Gepäck im Wagen zu lassen, etwas vorauszugehen und am Berg Isel zu warten. Fast erfreut darüber, den schönen Morgen und die klare kräftige Luft spazieren gehend genießen zu können, gingen wir Beide die breite Straße entlang, an der Annensäule vorbei durch den Triumphbogen und befanden uns bald vor Wiltau, wo sich die Straße rechts wendet. Diese schöne breite Chaussee, welche gleich hinter der Stadt stark zu steigen beginnt und den Namen Marien-Theresienstraße führt, ist der bequemste und niedrigste Übergang über den Hauptkamm der Alpen zwischen Deutschland und Italien.


Die Unterhaltung mit meinem Gesellschafter wurde oft von seiner Seite von freudigen Ausrufen des Wiedererkennens gewisser Punkte unterbrochen. Er war, trotz der modischen Kleider, bald als Tiroler zu erkennen, und ich erfuhr, dass er, ein geborener Grödener, eben aus New-York zurückkehre, wo er sich sieben Jahre aufgehalten, um einer Schnitzwaarenhandlung vorzustehen, welche seine Familie dort etabliert habe. Wie lebhaft wurde er, als er der Sehnsucht nach seiner Heimat gedachte, wie er die Stunden der langen Meerfahrt gezählt und nach der Landung sich keine Rast gegönnt und Tag und Nacht gefahren sei, bis er sich in den Bergen Tirols befunden. „Jetzt,“ fuhr er fort, „wo mich nur noch wenige Meilen von der eigentlichen Heimat trennen, wo ich mich wieder wohl in den Bergen fühle, ist es nicht die Gegend, nach welcher ich mich sehne, sondern das Wiedersehen der Meinigen, des Vaters, der Mutter und Brüder und Schwestern, und mir stockt ordentlich das Blut vor Erwartung und Freude, wenn ich daran denke. Aber ich finde eine Art Lust daran, die Qual der Erwartung zu verlängern, denn ich hätte ja Extrapost von hier aus nehmen können. Ich habe ihnen jedock geschrieben, wenn ich Innsbruck mit dem Stellwagen verlasse und hoffe, einer meiner Brüder oder Beide werden mir bis Klausen entgegenkommen.“ Wer nun Tirol und sein mit den Bergen und Tälern verwachsenes Volk kennen gelernt hat und sich nun denkt, wie ein Sohn dieses Landes von seinen Bergen hinweg sieben lange Jahre in einer Stadt wie New York gelebt hat, wo „jeder treibt sich an dem Andern kalt und fremd vorüber und fraget nicht nach seinem Schmerz,“ der wird sie begreifen diese Sehnsucht, diese freudige Erwartung, diese zögernde Ungeduld des Wiedersehens.

An der ersten Krümmung der schönen Kunststraße ließen wir uns nieder, um noch einmal das liebliche Bild des Innthales mit der lang in der Tiefe hingestreckten Stadt, dem glitzernden Strome und den malerisch gestalteten Bergen in der freundlichen Morgenbeleuchtung unserem Gedächtnisse einzuprägen. Es war zugleich ein klassischer Boden, auf dem wir ruhten. Wer kennt nicht die beiden blutigen Treffen, die unter dem Namen der „Schlachten am Berg Isel“ bekannt sind, wo das freiheitsliebende und doch seinem angestammten Kaiserhause ergebene Volk der Tiroler tapfer gegen seine Bedränger focht und wo der Sandwirt Andreas Hofer und Speckbacher im Mai und August des Jahres 1809 über die Franzosen siegten. Noch bleibt mancher bejahrte Bewohner der Umgegend an diesem Orte stehen, um sich mit Rührung der Zeit zu erinnern, wo er als junger Bursche hier im Pulverdampfe stand und mutig mit seinem Stutzen vorwärts nach dem an Zahl überlegenen Feinde drang.

Schon waren uns mehrere sonntägig geputzte Herren begegnet, die mit uns gleichen Weg gingen, auch ein Wagen mit allerlei Hausgerätschaften war uns vorausgefahren, und mein Begleiter erklärte mir, dass diese Leute alle zum Besuch ihrer Familien oder Freunde in die „Sommerfrische“ gingen. Diese Sommerfrische, ein Landleben in der reinen gesunden Luft und den anmutigen Gefilden des Mittelgebirges, wie der Höhenzug vom Isel am rechten Innufer aufwärts genannt wird, versagt sich, wenn möglich, kein irgend bemittelter Innsbrucker, um dort einige Wochen von Geschäften frei, der Natur zu leben. Und kann er selbst nicht abkommen, so schickt er wenigstens seine Familie hinaus in die stärkende Luft, und kommt alle Sonn- und Festtage aus der heißen Stadt, einige Stunden bei ihnen zu verleben. Die am meisten zu diesem Zwecke gesuchten Orte sind die Höfe und Häuser der Dörfer Natterns und Mutterns mit ihren Gebüschen und schönen nahen Waldestiefen rechts über uns an der Brennerstraße und und die Dörfer Lans und Sistrans am Fuße des Patscherkofel.

Endlich näherte sich unser Wagen von der Stadt her und wir geizten gleichsam mit den Minuten bis zum Einsteigen, um unsere Umgebung so lange als möglich zu genießen. Die bereits im Wagen befindliche Gesellschaft bestand nur aus drei Personen, einem langen hageren Herrn mit schwarzem Backenbart und ernstem Gesichte, einem kleinen sehr dicken Herrn mit breitem, rotem Gesichte und erbsfarbenem Rocke als Gegensatz, und einem bildhübschen schlanken Mädchen von etwa neunzehn bis zwanzig Jahren. Während der Grödener vorn im Cabriolet Platz nahm, fand ich den meinigen innen am linken Fenster neben dem hübschen Kinde, dem dicken Herrn gegenüber. Der der deutschen Sprache unkundige hagere Herr, ein Florentiner Kaufmann, spielte auf der ganzen Fahrt eine stumme Person, und sein Gesicht hellte sich nur auf, wenn man ihn in seiner Muttersprache anredete oder ihm beim Bestellen in den Gasthäusern zu Hilfe kam. Desto gesprächiger war mein Gegenüber, ein Dr. K. aus M. in Deutschland, der mit gutmütiger Neugier gleich wissen musste, wer und was ich war, was ich hier mache und wohin ich jetzt reisen wolle. Einmal ums andere brach er in lebhafte Lobeserhebungen über die Schönheiten aus, welche sich ihm durchs Wagenfenster boten und animierte beständig seine sehr stille, schweigsame Nichte, neben mir, bald diese, bald jene schöne Stelle oder Aussicht zu betrachten. Trat eine Pause in der Unterhaltung ein, so zog er regelmäßig entweder ein Reisehandbuch aus den weiten Taschen, um halblaut darin zu lesen, oder ein italienisch-deutsches Taschenlexikon, und versuchte, sich dem Italiener dadurch verständlich zu machen, dass er ihm so gut wie möglich eine Phrase daraus vorlas, worauf jener lächelnd nickte oder ein Paar Worte antwortete, welche ich meinem dicken Doktor erst verdollmetschen musste, wenn ich sie selbst verstand. Er nannte dies Vorbereitungen zur Reise in Italien. Für mich hatte dieses Wageninterieur etwas sehr Drolliges und doch Anziehendes, und hielt mich oft ab, meine Aufmerksamkeit der Landschaft draußen, wie ich wünschte, zu widmen. Über die grünen Tannengründe hinweg, die hier und da von der Straße links ins Tal hinabstanden, fiel der Blick auf die jenseitigen Höhen des Wipptales, in welchem die Sill herabbrauste, aus den immer näher tretenden Patscherkofel und das weiße Kirchlein Heiligenwasser. Auch ich unterließ nicht, das Mädchen an meiner Seite auf die hübschen Landschaftsbilder aufmerksam zu machen. Empfänglich im höchsten Grade für die schöne Natur, wie sie war, lag doch ein Schatten über ihrer Seele und eine gewisse Trauer und Entsagung in ihrem lieblichen Gesichte. Sie kontrastierte demnach auffällig mit dem immer lebhaften, freundlich-gesprächigen Onkel. Es schien mir fast ein gutes Werk, sie ihren Gedanken zu entziehen, ihr einen frohen Blick, ein freundliches Wort oder Lächeln abzugewinnen. Was es mit ihr war, konnte ich damals nicht ergründen, aber ihr ganzes Wesen interessierte mich lebhaft.

Da öffnete unser Kutscher den Schlag und ersuchte die Herrschaften, für einige Zeit auszusteigen, da wir eben am Schönberg seien, wo die Reisenden immer ausstiegen, um sich umzusehen und den steilen Weg den Pferden etwas zu erleichtern. Gern folgten wir seinem Ansinnen. Dieser Schönberg ist von Innsbruck aus der schwierigste Punkt dieser uralten Alpenstraße, die schon von den Römern gekannt und benutzt, im Jahre 1772 erst ordentlich wieder fahrbar gemacht worden ist.

Wir befanden uns an der Stephansbrücke, die in weiten kühnen Bogen hier den Rutzbach überspannt, welcher rechts aus dem gewerbfleißigen Stubaital kommend links nach der Sill hinunterschießt. Schon war unser Grödener Schnitzwarenhändler ungeduldig ein Stück voraus auf dem näher führenden Fußwege. Ihm folgten schweigsam der Florentiner und die stille Nichte, und der dicke Doktor machte mit mir den Schluss. Oft blieb aber mein Gesellschafter stehen, sich den Schweiß von der Stirne wischend und über das ungewohnte gewaltsame Steigen seufzend. Wir waren dadurch sehr zurückgeblieben und als wir endlich die Höhe erreichten, bot sich uns ein schönes Doppelbild. Man denke sich im Vordergrunde eine Anhöhe, welche der Weg sich hinaufschlängelt, die zur Linken oben mit dichtem Wald bestanden ist, über welchem hoch die Waldrasterspitze herausragt, während einzelne Bäume und Sträucher bis an den Weg vortreten. Auf dem höchsten Punkte angelangt, in ganzer Figur gegen die klare Luft lostretend, stand der Tiroler, die Arme über der Brust gekreuzt und den Blick voll an dem Bilde vor sich sättigend. Der Italiener, mit den Händen auf dem Rücken, lehnte etwas tiefer nachlässig an einem bemoosten Steinblocke, während das Mädchen, auf einem Steine sitzend, den großen Strohhut im Schoße, gedankenlos einige Blümchen in den Händen drehte und mit den Augen träumerisch in die Ferne starrte. Um die Staffage zu vollenden, stand einige Schritte vor mir der wohlbeleibte Onkel, vorgebeugt sich mit einer Hand auf den Stock stützend, indes die andere zitternd einen Gucker vor die Augen hielt, der ihm das schöne Bild näher ziehen sollte.

Und was war das für ein Bild, in dessen Anblick Alle versunken schienen und welches auch meinen Blick bald von dem Vordergrunde abzog. Es war eins der lieblichsten Alpentäler, das sich tief vor unsern Füßen entlang erstreckte, das herrliche Stubaital mit den glänzend grünen Wiesenmatten und buschigen Baumgruppen, aus denen hier und da ein freundlicher Ort mit dem schlanken Kirchturme herausblinkt, mit den schönen dunklen Waldungen, die zu beiden Seiten aufsteigen, mit den Almen darüber und den großartigen, ganz mit Schnee bedeckten Alpeiner- und Stubai-Fernern im Hintergrunde. Ein reiches Bild, wie es nur die Alpen bieten können, lieblich und majestätisch, die Brust erweiternd und feierlich stimmend. Man möchte beten und aufjauchzen zu gleicher Zeit. Wie einzig ist doch diese Alpennatur und wie unendlich groß ihr Schöpfer. Nirgends Wiederholung, jede Form eine andere, jede Kontur am rechten Orte, jede Farbe, vom tiefdunkeln Schwarzgrün bis zum rosigen Schneeweiß, so zum Ganzen harmonierend, dass der nachbildende Mensch nichts hinzuzusetzen wüsste, die Landschaft zu vollenden. —

Der Doktor mahnte zum Aufbruch, und der Grödener war schon hinter der Höhe verschwunden. Noch oft blickten wir im Vorwärtsgehen rechts nach dem schönen Tale, bis es bald unsern Blicken entschwand und nur noch die weißen Fernerspitzen über die Unterbrechung herüberglänzten. Wo der Weg mit der Straße zusammenläuft, wartete der Wagen. Von Schönberg mit Matrey führt die Poststraße scharf an der links jäh abfallenden Bergwand hin, unter der eine bedeutende Tiefe gähnt, bisweilen ist sie selbst ftreckenweis aus dem Felsen herausgearbeitet. Tief unten braust die Till, durch viele aus den Seitentälern herabtosende Gießbäche verstärkt, von jenseits herüber aber schaut so heiter das Dorf Patsch, den düstern Charakter der Gegend mildernd.

Die Unterhaltung im Wagen kam ins Stocken. Der Italiener schlief, das Mädchen sah träumerisch vor sich nieder, und auch mein Gegenüber kämpfte mit der Schlaflust, sich gewaltsam zwingend, im Reisehandbuche zu lesen, indes ich am offenen Fenster langsam die Talbilder an mir vorüberziehen sah. Nur bei Matrey, mit dem hübschen Schlosse Trautson, wo sich wieder schöne Aussicht öffnet, kam etwas Leben in die Gesellschaft.

In Steinach hielten wir, um daselbst zu Mittag zu speisen, und da noch einige Zeit bis zum Auftragen des Essens verstreichen konnte, bewog ich meinen Doktor leicht, mir mit der Nichte in die Kirche zu folgen, um die drei Altarbilder des größten tiroler Malers, Knoller, zu betrachten. Hier geboren, brachte er fast sein ganzes Leben in Italien zu und starb im Jahre 1804 als Direktor der Kunstschule zu Mailand. Wie die schönen Gemälde bezeugen, hatte er sein Heimatdorf nie vergessen. Nach diesem Kunstgenusse, den der Doktor pflichtschuldigst hinnahm, weil er in seinem Handbuche vorgeschrieben war, gingen wir um das Dorf, um auch Naturgenuss mit der Promenade zu verbinden. Westlich zieht sich das weite, mächtige Gschnütztal hinauf, ebenfalls von den Schneemassen der Stubaiferner überragt. Der Rückweg brachte uns am Geburtshause Knollers vorbei, das durch eine graue Marmortafel mit goldener Inschrift bezeichnet war. Armes Steinach! wer hätte dir damals dein trauriges Schicksal vorhersagen mögen. Es ist 1853 fast gänzlich abgebrannt und nur mit Mühe sind aus der in Flammen stehenden Kirche die Altargemälde gerettet worden.

Die Wirtin brummte, dass wir zu lange geblieben, und mein dicker Gesellschafter saß bald, alles Andere über den materiellen Genuss vergessend, eifrig vor seinem Teller, mit vollen Backen arbeitend. Die frische Bergluft wecke den Appetit fürchterlich, meinte er.

Obgleich immer ansteigend, führt die Straße von hier aus weniger steil aufwärts. Der schmaler gewordene Bergstrom kommt mehr in gleiche Höhe mit dem Wege, so dass wir bei Staflach über ihn auf niedriger Brücke aufs jenseitige Ufer fahren konnten, wo sich links von der Straße das wildromantische Falsertal öffnet, ein Hochalpental, dessen Bergkolosse bis hart an uns herantraten. Bis zum nahen Orte Gries wurde die Sill noch mehrmals passiert; die düstergrauen Trümmer der Luegburg lagen so einsam auf ihrem Felsenvorsprunge, und bald nahm uns ein enger Paß auf, alle Aussicht und Umschau wehrend. Schon hatte uns nach und nach das Laubholz verlassen und dem schwarzgrünen Nadelholz überall Platz gemacht; auch kündigte sich die Höhe, 4.500 Fuß, durch frischere Temperatur an. Als die Klamm hinter uns lag, erweiterte sich das dicht mit Holz bestandene Tal, einem kleinen, grünen Bergsee Raum gebend, den still die Sill durchrinnt, die kurz oberhalb desselben ihren Ursprung hat. Bald war auch der höchste Übergangspunkt erreicht, das einsam in waldiger Schlucht liegende Brennerposthaus, das in seiner versteckten Lage weder Aussicht noch sonst etwas Charakteristisches hat, außer dass sein Dach eine merkwürdige Wasserscheide zwischen dem schwarzen und adriatischen Meere bildet, denn während das Regen- oder Schneewasser aus der einen Traufe in die Sill und somit der Donau zuläuft, ergießt sich das der andern in die südlich fließende Eisack.

Unsere neue Führerin beim Herabsteigen nach dem Süden, die Eisack, kündet sich durch donnerndes Brausen an, und stürzt gleich hinter dem Brennerposthause tosend eine senkrechte Felswand herab, in weißem Nebel aufstäubend, bildet aber gleich einen starken Bach, über welchen sich eine Brücke für unsere Straße wölbt. Längere Zeit noch läuft der Weg ziemlich horizontal in der Schlucht fort und der Bach geht still zur Seite, von schönen Wiesenmatten umgeben, wo das Tal sich etwas erweitert. Mehrmals fallen gleich gläsernen Fäden kleine Giesbäche von den rechten Felsenwänden herab, wühlen sich ins Gras und fließen dem Hauptbache zu. Das einsame Brennerbad, wohl nur von Kranken der nächsten Umgebung besucht, blieb uns links und der Charakter des Tales, trotz der schöngrünen Wiesenstücken, ein recht öder. Endlich aber ward Leben in der Natur. Die Straße senkt sich auf einmal merklich und der Fluss tobt in unaufhörlichen Kaskaden, oft bedeutenden Fällen, schnell durch überall herabfließende Sturzbäche vergrößert. Bei Dorf Gosensaß, wo wiederum eine alte Ruine die Gegend verdüstert, zeigte sich auch wieder Laubholz, erst vereinzelt, dann massiger, und das öde Aussehn der Gegend wich einem freundlichen. Schon neigte sich die Sonne den westlichen Bergspitzen zu, als wir das altertümliche Gebirgsstädtchen Sterzing, wo wir für die Nacht bleiben wollten, erreichten. Dieser hochgelegene Ort hat ein eigentümliches Gepräge. Die alten massiven, weiß angestrichenen Gebäude mit Laubengängen und hohen, spitzen Dächern, von denen lange Dachrinnen weit in die Straßen vorragen, an den äußern Wänden oft reich verziert, erinnern mehr an Deutschland, trotz der eigentümlichen Lage und hohen Gebirgsumgebung, als Innsbruck und Brixen mit ihrem mehr italienischen Charakter. Der weite Talkessel, in welchem das Städtchen liegt, das Sterzinger Moos genannt, bietet herrliche Fernsichten nach dem Penser Joch und dem Jaufen im Süden und das westliche Ridnauntal hinauf nach den Stubaifernern, während südöstlich die Burgtrümmer des Sprechenstein von der Höhe herabschauen. Bis die Sonne glühend hinter die Schneeferner hinabgetaucht war, die weißen Häupter mit rotgoldener Glorie umgebend und die ganze Gegend mit rosigem Abschiedsblicke grüßend, wandelten wir umher und betraten mit der Dunkelheit das Gasthaus. Wir hatten wenig gesprochen, der Onkel war bei aller Liebe für die Natur sehr abgespannt und die Nichte stiller wie je, ja ich glaubte zerdrückte Tränen in ihren Augen zu sehen, als sie dieselben das eine Mal dem Alpenglühen zuwandte.

Es war noch sehr früh, als ich aufstand und das Fenster öffnete, um das Gesicht in der frischen Morgenluft zu baden. Die erst nur geröteten Spitzen des Jauffen standen plötzlich im hellen Sonnenlicht, das sich Minute um Minute tiefer den Berg hinabzog und bald auch den Scheitel des Penser Jochs beleuchtete, indes das Tal und die Straßen Sinzings noch ein Dämmerungsschleier umhüllte. Als ich den Kopf wandte, sah ich, dass ich nicht der einzige Beobachter dieser Morgenszene war, denn rechts neben mir schaute auch der Florentiner ins Freie, tief die Zipfelmütze über das bärtige Gesicht gezogen. In dem Zimmer, links vom meinigen, schritt Jemand ungeduldig auf und nieder; es war jedenfalls der Grödener, der gewiss die Zeit berechnete, wenn er in Klausen sein würde, und wenn die Brüder dahin herabsteigen möchten. Auch im Hause ward Leben; unser Kutscher kam, mit dem Ärmel sich die Augen reibend, auf die Straße, um den Wagen zu schmieren. Hier und da wirbelte auch blauer Rauch aus den alten Schornsteinen über die dunkeln Waldgründe in die helle Himmelsluft hinauf.

Noch hatte die Sonne nicht ganz die Tiefe des alten Städtchens erreicht, das mir heute recht sauber erschien, und, wie ich später hörte, durch langen Bergbau ziemlich reich geworden war, als wir, nach eingenommenem Frühstück, in der gestrigen Ordnung im Wagen sitzend, aus den stillen Gassen hinausfuhren. An den von der Sonne beränderten Burgen Sprechenstein und Greifenstein und der kleinen durch ihr Soldatenbild merkwürdigen Kapelle vorbei, durch das Kirchdorf Trens bis nach Mauls ging es stets sanft bergab, rechts immer von der Eisack begleitet, welche in wahrhaft mäandrischen Windungen bald still und langsam daherfließt, bald sich überstürzt und geräuschvoll sprudelt. Wo bei Mauls an der Stätte eines altrömischen Castells die Burg Welfenstein ins Tal schaut, verengt sich dasselbe mit jedem Schritte mehr, und indem wir wohl eine Stunde lang über denkwürdigen Boden fuhren, der durch die blutigen Kämpfe von 1797 und 1809 für das Volk ein geweihter geworden, gelangten wir am isoliert liegenden Sackwirtshause vorbei nach Mittewald. Welch grauses Schlachtbild würde der fünfte August des Jahres 1809 dem geboten haben, der von den südlichen Höhen Zuschauer der Ereignisse dieses Tages gewesen wäre. Als die Truppen des Marschalls Lefevre, mit einer aus Sachsen und Bayern bestehenden Vorhut, in geregelter Ordnung vom Brenner herabkommend, diesen Punkt erreicht, erscheint plötzlich der zum Feldherrn umgewandelte Kapuziner Haspinger mit seinem Tiroler Landsturm von unten her und es entspinnt sich im engen Tale ein furchtbarer Kampf. Die Vorhut weicht auf das französische Hauptkorps zurück, der Kampf wird allgemeiner. Schnell sieht man von der einen Seite die breiten Feuerstriche des Pelotonfeuers sich wiederholen, auf der andern ein unregelmäßiges Schießen, bald in ein Dreinschlagen mit dem Gewehrkolben übergehend. Da blitzt und dampft und kracht es im Rücken der Franzosen. Speckbacher dringt über den Punleiter Steg am Sackwirtshause herüber, während Hofer über den Jaufen herab mit neuen kampflustigen Scharen kommt. Durch den Dampf, der durch das unausgesetzte Schießen im engen Tale entstanden, sieht man die großen Hauptmassen der Franzosen sich langsam zurückschieben; das Gewehrfeuer mischt sich mit Schmerzgeschrei, hin und wieder klingen Trompetensignale hindurch, laut aber schallt das Kampfgeschrei der Tiroler. Das regelmäßige Feuern des Feindes wird unordentlicher, indes es von allen Seiten der Schlucht, von den umgebenden Höhen hernieder, hinter jeder Mauer, jedem Strauche hervor unablässig blitzt und kracht, und Steine unter die dichtgedrängte Masse geschleudert werden. Bald bildet das Ganze nur noch ein wildes Chaos, hier und da durch den dicken Dampf sichtbar; die langen Feuerstriche in der Tiefe haben aufgehört, das Schießen ist überhaupt schwächer geworden, dafür das Kampfgeschrei tobender als erst und deutet auf dichtes Handgemenge. Man hört, wie der Kampf sich das Tal hinauf zieht, sieht in der Ferne einen Teil der feindlichen Armee in zügelloser Flucht und nur noch vereinzeltes Schießen, vom Echo vielfältig wiederholt, deutet den Mordkampf an. Ein durchdringendes tausendstimmiges Jauchzen aus der Ferne übertönt als Siegesgeschrei des mutigen Bergvolkes, das Stöhnen der Verwundeten, das Wiehern der Rosse und das vereinzelte Gewehrfeuer, und als der schwache Ostwind den Rauch von der Szene gewälzt, ist auch das Bild des Kampfes verschwunden und nur das eines Schlachtfeldes zurückgeblieben mit all den traurigen Erscheinungen an toten und verwundeten Kriegern, herrenlosen Pferden, demolierten Geschützen und Wagen und verstreuten Waffen und Ähnlichem. Versöhnend mit den Schrecknissen eines solchen Anblicks kann nur das schmerzvolle Mitleid wirken, mit welchem die dem Landsturme gefolgten Frauen, wie die Töchter der Umgegend, vor den Verwundeten und Sterbenden knieend, ihnen einen erfrischenden Trunk reichend oder irgend eine andere Linderung gewähren oder einen ewigen Abschied von den Geopferten für das Vaterland nehmen.

Beim Dorfe Oberau wird die Schlucht enger und zum Passe. Wir überschritten die Eisack, und als wir aus der Schlucht herauskamen in einen weiten Talkessel, lagen die großartigen casemattierten Festungswerke der Franzensfeste zu beiden Seiten der Straße vor uns. Überall in Tirol finden wir die Bergengen, meist beide Endpunkte eines Haupttales, durch Befestigungen bewacht und geschützt. Bald sind es noch alte Römercastelle, bald mittelalterliche Burgen, bald Querbaue oder Klausen, welche den Pass förmlich schließen und nur durch ein Tor den Durchgang gestatten. Alle derartigen Bauten werden ebensowohl an vorteilhafter Lage wie an dauerhafter Ausführung von den bei Unterau gelegenen gerundeten Forts der Franzensfeste übertroffen, die nicht nur den eben verlassenen Pass, sondern auch das untere Eisacktal nach Brixen hin, wie den Eingang ins östlich sich öffnende Pustertal bestreichen und so das Straßendreieck vollkommen beherrschen. Welche Arbeit diese Festungsbauten, namentlich das rechts auf der Höhe thronende Fort verursacht, kann nur Der beurteilen, der diese Gegend in der Mitte der dreißiger Jahre besuchte und die armen ungarischen und slawonischen Soldaten in der Sommerhitze die Felsen sprengen und die kolossalen Quadern auf den niedrigen Karren an den Ort ihrer Verwendung fahren sah. Bis auf die Hüften nackt und barfuß, ließen nur die blauen, über den Knöcheln geschnierten Hosen die Soldaten erkennen, deren oft zehn, zwölf bis zwanzig vor einem solchen Karren gespannt, denselben, auf allen Vieren kriechend, die Anhöhe hinaufzogen, während ein ebenfalls halb nackter Unteroffizier, mit dem Haselstocke in der Hand, als Fuhrmann nebenher ging. Man konnte sich nach Ägypten in die Zeiten des Pyramidenbaues versetzt glauben. Jetzt ist dies Alles vergessen, die schönen Werke stehen vor Aller Augen und nur die Erzählung oder Erinnerung kann dergleichen Szenen noch vergegenwärtigen. Der schöne Morgen und die herrliche Naturszenerie verwischte auch bei uns bald die Eindrücke, welche die Erzählungen von der Schlacht und dem Festungsbau hervorgebracht. Links der Feste gegenüber erblickten wir die hohe Wölbung der nach dem Pustertal führenden Ladritscher Brücke, welche sich über die hundertfünfzig Fuß tief in schauerlichem Felsenspalt tosende Eisack spannt, rings um uns aber schönbewaldete Bergmassen, welche in malerischen Formen die drei Talmündungen umstehen.

Was sich schon von Sterzing herab hier und da ahnen ließ, drängt sich nun mit einem Male bei der Südwendung des Tales vor Brixen mächtig auf; wir fühlen, wir haben den Hauptkamm der Alpen hinter uns und gehen dem Süden und Italien entgegen. Welche auffallende Veränderung jetzt in der Vegetation. Gleich nach der Wendung ins Untereisacktal nahm uns eine dichte Allee von Wallnuss- und Kastanienbäumen auf; an den untern Berghängen zeigt sich erst vereinzelt, dann zusammenhängender Weinbau, nach Art des Südens über Holzspalieren und Lauben gezogen, und wo sich nur der Talsohle ein Stücken Boden abgewinnen ließ, sind buschige oft mühsam bewässerte Maisfelder. Alles üppiger und saftiger, von der Pflanze, die sich mühsam im Felsspalte anklammert bis zu den hochgegipfelten Bäumen mit dem dunkeln, kühlen Schatten. Der Florentiner schaute, freundlicher werdend, sehnsüchtig in die transparenten grünen Laubdächer und selbst Nichte Therese klatschte freudig in die Hände.

Links blickte unten aus dem Tale die weiße, etwas orientalisch ausschauende Kirche des alten Klosters Neustift zwischen Bäumen herauf und nachdem wir an dem Farner Bade rechts, wo sich ein schmales Tal öffnet, vorbeigekommen, lag bald die ehemalige fürstbischöfliche Stadt Brixen vor unsern Augen, in ihrer modernen Äußerlichkeit durch nichts verratend, in welch graue Vorzeit ihre Gründung zurückgeht.

Freundlich inmitten anmutiger Berggelände und massiger Baumgruppen gelegen, dehnt die Stadt ihre weißen, italienisch blickenden Häuser langhin, vielfach von Kirchen und Türmen überragt, unter welchen der Dom mit den beiden hohen Fronttürmen am meisten imponiert. Während unser Wagen vor dem Gasthause hielt, dessen vordere Seite einen riesig gemalten aber etwas verwischten Elephanten als Schild zeigte, begaben wir uns auf eine Wanderung durch die Stadt, deren Inneres indes dem heitern Anblick von außen durchaus nicht entspricht, denn die Straßen sind krumm, winklich und schlecht gepflastert, und die öffentlichen Gebäude, vornehmlich die Kirchen, halb im italienischen, halb im zopfigdeutschen Style des siebzehnten und achtzehnten Jabrhunderts erbaut. Obwohl wir auch den Dom von Außen und den Orangeriegarten mit der Fontaine besichtigten, blieb uns keineZeit, die innern Kunstschätze der Kirchen aufzusuchen; wir fühlten auch, ich gestehe es, keinen großen Drang darnach, denn die Lockungen des Südens waren zu mächtig, um uns die dazu erforderliche Ruhe zu gönnen. Bald fuhren wir auch wieder zur Stadt hinaus, unter den dichten schattigen Kastanienalleen, deren Laubkuppeln ein dichtes Dach bildeten.

Die Gesellschaft im Wagen war lebhafter als jemals und unter freundlichem Geplauder fuhren wir dahin, bis es uns aus ein Mal bemerklich wurde, dass die Mittagssonne sengend auf die Wagendecke und zu den Fenstern herein brannte, und eine Umschau uns überzeugte, dass wir die schattigen Alleen verlassen und uns in einem hohen engen Felsentale befanden. „Klausen! Klausen!“ rief es freudig vom Kutschbocke. Es war der Grödener, der in einem Satze herabsprang, dem Kutscher etwas zuraunte, zu uns ans offene Wagenfenster trat, um, jedem die Hand reichend, Abschied zu nehmen und dann dem langsamer fahrenden Wagen eilig vorauslief in der Erwartung eines freudigen Wiedersehens. Der Anblick, der vor uns sich entfaltenden Landschaft war zu schön, um uns nicht auch zu veranlassen, aus dem Wagen zu steigen und die kurze Strecke zu Fuße wandernd zu genießen. Tief unten im Tale lag der Ort Klausen, seine Häuser mit der Kirche in einer einzigen Gasse neben dem rauschenden Bergstrom schmiegend, rechts von einem hohen freistehenden Felsenkegel überragt, auf dem die malerische Klosterburg Seben mit den stattlichen Türmen und Kapellen thront. Dem Städtchen gegenüber zeigte sich das mächtige Schloss Griesbruck und um das Ganze zog sich eine solche Einrahmung anmutiger wie großartiger Berge, dass es kaum der üppigen Weinranken, der reichen Vegetation überhaupt, wie der pittoresken Häusergruppe im Vordergrunde bedurft hätte, ein höchst anziehendes Bild zu liefern. In Klausen hielt der Wagen vor dem Gasthause, wo die schönen Holzschnitzwaren aus den betriebsamen aber hoch in Bergen versteckten Grödener Tälern zur Schau und zum Verkaufe ausgestellt sind; ob aber der aus der Ferne kehrende Sohn dieser Täler seine Brüder hier gefunden und vielleicht jetzt im traulichen Umtausch des bisher Erlebten schwelgte, oder ob ihn die Sehnsucht bereits die gegenüberliegenden Berge hinaufsteigen lasse, konnte ich nicht erfahren. Der durch sein herabbröckelndes Gestein oft gefährtete Kuntersweg, wie die Straße von hier ab heißt, brachte uns bald nach den von altertümlichen Mauern umschlossenen Orte Kollmann, auf welchem vom hohen Felsvorsprunge jenseits die imposante, durch eine Brücke in sich verbundene Doppelburg Trostberg mit ihren vielen Türmen und Zinnen herniederschaut, welcher zur Linken in der öden Felsschlucht der Grödener Bach herabschießt und der Hauptweg nach Gröden und dem obern Enneberg sich hinaufzieht. Südlich ragt über die Porphyrwände des Kuntersweges majestätisch der hohe breite Dolomitkegel des Schlern, der uns später in seiner hohen Lage vom Etschtale bei Botzen immer sichtbar blieb.

Wie ein vorgeschobener Posten oder wie ein ernstfreundlicher Bote des Südens erhebt sich rechts in den Weingärten oberhalb Teutschen eine hohe, spitze, dunkle Zypresse, die erste im Freien. Und als ob das Auge nun aufgefordert würde, alle Sehkraft den umherstehenden Reichtümern der Natur zuzuwenden, öffnet sich unter der schönen Felsform des Schlern mit seinem vielfarbigen Gestein der Porphyrkessel des Tales, der keinen Ausgang zu haben schien; ein schöner Kastanienwald, reicher Weinbau, üppiger Pflanzenwuchs, überall Blumen und Früchte, wohin wir blicken. Auch die Sänger des Südens erscheinen, das Gezirp der Zikaden ertönt von allen Seiten durch die klare Abendluft. An einem kleinen Bauerhause zur Linken steigt ein Weinstock knorrig und wohl einen Fuß dick in die Höhe, Spaliere bildend über die ganze Seite des Hauses, geht am Schornstein über das Dach hinweg und grünt als zweites Spalier auf der andern Seite des Gebäudes, dicht mit Trauben behangen.

Da liegt auf einmal der herrliche weite Talkessel vor uns, in welchem so viele Täler münden, und entgegen glänzt uns das anmutige Botzen, diese italienisch-deutsche Stadt, mit dem schlanken durchbrochenen Kirchturme.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bilder aus den Alpen