Der Orient

Indem ich in Folgendem versuche, einige von den Gegenständen zu zeichnen, welche dem Wanderer im Morgenland am meisten imponieren, ihm die hehrsten oder anmutigsten Erinnerungen wecken, halte ich für zweckmäßig, als Einleitung ein Gesamtbild der orientalischen Welt vorauszuschicken, wie es sich in stillen Stunden allmählich aus der bunten Fülle von Eindrücken und Erlebnissen zusammensetzt, zu denen mir ein dreimaliger Besuch der Levante Gelegenheit bot.

Namen tauchen auf aus einer Stimmung, die etwas von einem narkotischen Rausch hat. Aus den Namen werden Gestalten auf halb lichtem Hintergrund, bald blass wie Schatten bei Mondschein, unbestimmt, flackernd, verschwimmend wie Erscheinungen der Traumwelt, bald schärferen Umrisses und Gepräges, je nach der Macht, mit der ihre Urbilder auf die Seele gewirkt — das Ganze eine stille, farblose Fata Morgana am Horizont des Lethestromes, Schattenländer und Schattenmenschen. Sie kommen und gehen wie wanderndes Gewölk am dämmernden Himmel, kehren wieder, um zu bleiben und nach und nach Farbe anzunehmen, die einen eher, die andern später und weniger klar. Und es wird heiterer, plastischer und wirklicher. Die wunderbare Sonne des Südens geht auf über dem Gedankenspiel, gießt ihre Strahlen auf die einzelnen Gebilde und umgibt sie mit einer Lichtatmosphäre von zauberhaftem Reiz, Auch das falbe Zwielicht der letzten fernsten Hintergründe färbt sich und erglänzt hier als weite dunkelblaue Meeresfläche, da als tief orangegelber Abendhimmel, dort als das brennend warme Violett von Gebirgen unter diesem Himmel, hier wieder als das flimmernde Goldgelb von Wüsten in der Glut des Mittags.


Und die einzelnen Gestalten beginnen zu leben und sich zu bewegen. Sie gewinnen Klang und Stimme, ich fühle die Wärme der Luft, und selbst die Nachempfindung des Geruches, den die Gegenstände ausströmten, lässt sich spüren, selbst Laune und Stimmung, die sich an sie knüpften, quellen aus der Vergangenheit wieder auf, Gefühle des Staunens und des Behagens, der Wehmut und des Widerwillens, des Bangens vor Gefahr, des Triumphes, nach langem Sehnen, langer Mühe am Ziele zu sein.

Ich erkenne sie jetzt alle wieder, die prächtig gefärbten Erscheinungen meiner Pilgerfahrten, nur dass sie noch nicht geordnet sind, noch immer durcheinander wallen und zittern. Minaretts erheben sich über Stambuls Goldenem Horn mit schimmernden Spitzen und zierlich durchbrochenen Altanen, von denen die Glockenstimmen von Mueddins ihr „Allahu akbar!" ertönen lassen. Hart daneben türmen sich Pyramiden, streben riesige Granitobelisken empor, tun sich die langen Reihen von Grabgrotten auf, durch deren Türen das Volk Mizrajims in das Totenreich des Osiris auswanderte, öffnet sich die Pforte, durch die man in die kerzenerhellte Nacht des heiligen Grabes blickt. Neben dem modernen Seedampfer schwimmt die altertümliche Dahabie des Nil, schreitet das Kamel hin, das mich durch die Wüste trug, geht das türkisch gesattelte Pferd, auf dessen Rücken ich das Land der Philister und Sidonier durchstreifte. In den Kreis fromm verzückter Derwische tanzen kecke Gawassi-Mädchen hinein. Neben dem mit Pinien und Lorbeeren bekränzten Alphäus rauscht durch seinen Uferwald der Jordan, schäumen zwischen ihren roten Klippen die Stromschnellen von Syene. Unmittelbar neben dem Parnass erhebt sich das dunkle Haupt des Karmel, unmittelbar unter dem Bergtempel von Phigalia spiegelt sich in stiller Flut die einsame Tempelinsel von Philä. Am Fuß der Akropolis lagert sich die Sphinx hin, wachsen wie kolossale Steinpilze die gewaltigen Säulen aus dem Boden, welche das Dach der Königshalle von Karnak trugen. Alles erscheint, um im Augenblick darauf zu verschwinden und andern von der Phantasie aus dem Gedächtnis heraufbeschworenen Gebilden zu weichen. Nur das helle brennende Sonnenlicht, das sie alle bescheint und durchglüht, und nur die Empfindung, dass die Augen in eine völlig andere Welt als die des Nordens schauen, bleiben unverändert.

Scheiden wir das bunt Durcheinanderwaltende nach Zeit und Ort, und wir sind aus dem Land der Träume wieder in die volle Wirklichkeit getreten — wir sind auf der Reise in den Orient.

Ein Lloyddampfer heizt auf der Reede von Triest. Die Wellen tanzen unter den Flügelschlägen des Scirocco, der den Reisenden die Grüße Afrikas zu überbringen scheint. Ein Nachen führt uns an Bord. Bald darauf wird der Anker gelichtet, die Maschine beginnt zu arbeiten, und brausend durchschneidet, nach Süden gekehrt, der Bug des Fahrzeuges die Wellenfläche, eine lange Spur schaumigen Kielwassers hinter sich zurücklassend. Die weiße Stadt wird allmählich graublau und zerfließt zuletzt im Duft der Ferne.

Unser Dampfer ist ein Geisterschiff, er fährt mit der Schnelligkeit des Gedankens, und so empfinden wir nichts von der Langenweile, die auf allen wirklichen Schiffen als blinder Passagier mitreist. Kaum sind die letzten Berge deutschen Landes am Horizont verschwunden, so fliegen wir schon an den letzten Küstenhügeln Istriens, an dem Insellabyrinth vor dem dalmatischen Gestade, an den mächtigen Felsenschichten der Tschernagora vorüber. Albaniens schroffe Gebirgskette erscheint mit ihren Dörfern, und im nächsten Moment bereits begrüßen wir in der Erinnerung an Corfu mit seinen Hainen von Goldorangen und Zypressen und seinen bunten Trachten das erste Bild orientalischen Lebens.

Der Dampfer schwimmt ohne Aufenthalt weiter, immer nach Süden gerichtet. Die sieben Inseln Joniens begegnen dem Auge nur zum Teil und in blassen Farben. Dann fährt das Schiff einsam und allein zwischen Himmels- und Meeresgrund. Noch einmal wird zur Linken im Nebel der Entfernung Land sichtbar mit gewaltigen Bergeshäuptern. Es ist das alte Kreta, dessen Felsengipfel im Altertume einer der Wohnsitze des wolkensammelnden Göttervaters der Griechenwelt waren, und das wie eine mächtige Seeveste vor der Pforte des Archipelagus liegt. Dann wieder nur Himmel und Meer. Die Luft ist wärmer geworden, wir sind schon in den Gewässern Afrikas, und wenige Augenblicke noch, so taucht vor uns, in Gestalt einer schmalen blauen Linie, auch das Land des dritten Weltteiles auf. Ein Leuchtturm erscheint über flachen Riffen, dahinter Minaretts. Das Schiff schwenkt in weitem Bogen in einen Hafen mit zahlreichen Masten ein und lässt vor einer weißen Stadt, über deren flachen Dächern uns Palmen winken, den Anker fallen. Boote mit gelben und schwarzen Gesichtern in bunter morgenländischer Tracht sammeln sich um uns. Nie gehörte Kehl- und Gaumenlaute schlagen daraus an unser Ohr. Am Ufer, wohin sie uns bringen, tummelt sich, noch bunter und lauter, mit Kamelen und Eseln um die Wette allerlei Volk des Orients und Occidents, Schwarze aus dem Sudan, braune Araber, Türken, Griechen, Italiener und Engländer, tiefverhüllte Frauen, nackte Kinder, Turbane und Kaftane, Rot, Blau, Gelb, alle Farben des Regenbogens, alle Sprachen der Levante, für den Neuling auf diesem Boden eine ungeheure phantastische Maskerade. Wir sind in Alexandrien, der großen halb italienischen, halb arabischen Hafen- und Handelsstadt Ägyptens.

Die Stadt, auch in ihrem Äußeren nur zum Teil orientalisch, hält uns nicht lange in ihren Mauern. Unser Sinn ist auf Größeres und Seltsameres gerichtet. Wir besteigen auf dem Bahnhof, den die eindringende Kultur des Abendlandes den Ägyptern gebaut hat, einen Waggon des Zuges, der uns aus den niederen Regionen des Deltas hinauf nach der Hauptstadt bringen soll. Auf dem Wege wechseln fette Triften und wohlbestellte Durrah- und Weizenfelder mit Sumpf und Steppe, glänzende Fürstenschlösser mit elenden Fellah-Dörfern, die sich wie graue Ameisenhaufen auf der grünen Fläche erheben, nicht viel besseren Städten und schönen Hainen und Gärten, aus denen dem Reisenden die Fruchtbäume subtropischer Regionen: die Palme und der Feigenbaum, Limonen und Bananen entgegenlachen. Zwei Brücken führen über die Arme eines gelben, langsam fließenden Stromes. Sei uns gegrüßt, heiliger Nil, Strom des Paradieses, Vater und König der Oase, in welcher zuerst menschliches Tun sich zum Staat und damit zur Geschichte gestaltete! Wieder nimmt uns — seltsamster Gegensatz zu dieser Erinnerung an das Uraltertum! — ein Bahnhof des neunzehnten Jahrhunderts auf, und als wir hinaustreten, breitet sich vor uns zwischen grünen Gärten und den felsigen Abhängen der Wüste mit seinen vierhundert Minaretts, seinen Palästen und seinem Castell Kairo aus, die Stadt der Chalifen, die Metropole Ostafrikas.

Verlassen wir das Quartier, in welchem die Europäer sich angesiedelt haben, schweifen wir durch das Labyrinth von Gassen und Gässchen, in das sich die übrigen Stadtviertel verästen, so sind wir hier in der Stadt Saladins auch in den Zeiten Saladins, und jeden Augenblick, so scheint es, könnte uns eines der Märchen von Tausend und Eine Nacht begegnen. Die Kulturgeschichte ist hier stehen geblieben, ihre Schöpfungen haben sich nur insofern verändert, als sie in Verfall gerieten. Das bunte Trachtengewimmel der Straßen, die Bauart der Häuser mit ihren vortretenden oberen Stockwerken und ihren vergitterten Erkern, die seltsamen Gestalten der Derwische und Mekkapilger, die Hochzeits- und Leichenzüge, die öffentlichen Festlichkeiten, Musik und Gesang, Glaube und Sitte, das Handwerk, wie wir es in den offenen Werkstätten an den Seiten der Gassen arbeiten sehen, der Handel, wie wir ihn in den einziehenden Kamelkarawanen und in den Basaren beobachten, die Wissenschaft, wie sie in den Säulengängen der Moscheen vorgetragen wird, die Architektur und der Kultus, Polizei und Justiz — Alles blickt uns mit den Augen, dem Charakterausdruck und mit der Stimmung des orientalischen Mittelalters an. Manche Farbe ist verblasst oder nachgedunkelt, manche Schönheit halb von Schutt bedeckt oder von Spinnweben überzogen, im Ganzen und Großen aber ist das alte Masr El Kahira noch das Bild und das Wesen, das es in den Tagen war, wo hier das Herz der islamitischen Welt schlug, ja in vielen seiner Erscheinungen treten uns Dinge und Menschen entgegen, welche uns an viel ältere Zustände und Verhältnisse, an das Leben in den Städten der Bibel, vor Allem an Jerusalem zur Zeit Jesu erinnern.

Und gehen wir hinaus vor die Tore, blicken wir von der Höhe des Castells hinüber nach Norden, Westen und Süden, so begegnen dem Auge allenthalben am Horizont Zeichen, dass hier in dem konservativsten der Länder auch die urälteste Zeit des Altertums noch nicht völlig erstorben ist. Im Norden mahnt wie eine Gedenksäule der Obelisk von Heliopolis an die Stadt der Priester, in welcher Joseph seine Gattin fand, Plato und Pythagoras zu den Füssen der ägyptischen Weisheit saßen. Im Westen am Rande der großen lybischen Wüste erheben sich, riesigen blauen Zelten gleich, vom steinernen Löwen der Sphinx bewacht, die Königsgräber von Memphis, die drei gewaltigen Pyramiden von Giseh. Weiter nach Süden, hinter dem Palmenwald von Mitrahenny, der die Stätte bedeckt, wo die alte Pharaonenstadt selbst lag, stehen andere Pyramidengruppen, zum Teil Werke noch weit früherer Jahrhunderte. Kein Buch, kein Zeichen gibt Aufschluss über ihr Alter, beschienen von der hellen Sonne der Gegenwart, sagen sie uns nur, dass sie sind und seit Jahrtausenden gewesen sind, nicht wie sie entstanden.

Wir fahren stromaufwärts, tiefer hinein in die Niloase, und überall dieselbe Unveränderlichkeit. Wohl begegnet uns auf dem Strom bisweilen ein moderner Dampfer, wohl erhebt sich da und dort der Schornstein einer Dampfmaschine, die eine Fabrik treibt. Aber der allgemeine Eindruck des Landes ist derselbe, wie in der Zeit des Anfangs der Geschichte. Nicht bloß die Berge, die das Flusstal zu beiden Seiten wie lange blaue Mauern einfassen, sind dieselben wie vordem; auch die grauen aus Nilschlamm erbauten Städte und Dörfer, auch die Menschen, obwohl ein anderer Stamm als der, welcher einst das Land bewohnte, bewahren im Wesentlichen denselben Charakter, den die ägyptische Welt im Altertum hatte. Der Leichenzug, der, von Klageweibern begleitet, dort aus dem Stadtthor kommt, die nackten Arbeiter, die am Ufer die Wasser-Schöpfmaschine in Bewegung setzen, der Hirt, der in Mitten seiner Schaf- und Ziegenherde, den Krummstab im Arme auf dem Brunnenrand sitzt, alle sind Bilder der Urzeit. Die Beter, welche mitten auf freiem Feld ihre Andacht verrichten, könnten einer Welt angehören, wo es noch keine Tempel gab. Die Karawane, die auf dem Goldgrund des Abendhimmels an uns vorüberzieht, könnte den verkauften Joseph in ihrer Gesellschaft haben. Dazu die wohl erhaltenen Tempel, Paläste und Königsgrüfte mit ihren kolossalen Türmen und Säulen, ihren Skulpturen und Malereien, ihren Alleen von Sphinxen, ihren gewaltigen Obelisken, dazu die Magie der Wüste und des Stromes mit ihren Luftspiegelungen, ihrem brennenden Abendrot, ihren zahllosen Schwärmen von Tauben, die wie Mücken über den Dörfern spielen, von Ibissen und Pelikanen, die in langen Reihen am Strande der Flussinseln sitzen, von Flamingos, die wie rosenrote Wolken über dem Schiffe hinziehen dazu die Stille und Einsamkeit der Mittagsstunde und das unablässige Gestöhn jener Wasser-Schöpfmaschinen, das bald wie die schwermütige Klage eines sterbenden Volkes, bald wie ferner Glockenklang klingt — in der Tat, eine solche Nilfahrt ergreift die Seele mit einem unbeschreiblichen Zauber und verbleibt nach der Rückkehr als ein Gewinn der edelsten Art.

Zunächst aber verdrängen ihn andere Bilder der Reise. Nach Alexandrien zurückgekehrt, eilen wir auf schnellem Dampfer der Küste des heiligen Landes zu. Jaffa erscheint auf seinem bienenkorbförmigen Hügel, hinter sich seine berühmten Limonengärten, vor sich die Brandung, wo die Legende den Propheten Jonas vom Fische verschlingen, neben sich die dunkle Felswand, wo die Mythe Perseus die schöne Andromeda von einem anderen Meerungeheuer befreien lässt, erfüllt von dem Gedränge der Pilger, welche die settimana santa nach Jerusalem führte. Rasche Pferde bringen uns über die Strandebene, wo einst das Volk der Philister wohnte, und durch die rauen Pässe des Gebirges Juda, an mancherlei Erinnerungen und Resten biblischer Zeit vorbei, hinauf nach der Hochebene, auf welcher Jerusalem liegt — Juden, Moslemin und Christen eine gleich hochheilige Stadt, auch uns ein Ort erhabenster, aber zugleich wehmütigster Empfindungen.

Wir besuchen die verschiedenen Stätten der Verehrung innerhalb und außerhalb der Mauern, den Hügel, wo Jehovas Tempel stand, die Kirche, die nach der Sage Golgatha und das Grab Christi einschließt, die unterirdische Höhlengruft, in welcher die Legende die Mutter des Heilandes ruhen lässt. Wir folgen den Pilgerschaaren, welche nach Gethsemane ziehen, betrachten die Gräber des Tales Josaphat, besteigen den Ölberg und fühlen, wie wir in einem Meere von Mythen schwimmen, in welchem zu baden, in welchem sich zu berauschen Tausenden und aber Tausenden, die mit ihren Anschauungen noch im Mittelalter leben, Genuss der Seligkeit auf

Erden ist. Eine betäubende Weihrauchs-Atmosphäre umgibt uns, Litaneien und Hymnen schlagen an unser Ohr, wie ungeheure Monstranzen funkeln uns die Kirchen und Klöster mit der Pracht ihrer Altäre entgegen, auf Tritt und Schritt folgt uns die Legende, um uns mit aufgehobenem Finger zu bedeuten, dass wir auf heiligen Steinen, an heiligen Häusern vorüber, an heiligen Gewässern entlang gehen. Das verzückte Auge sieht nichts als Heil und Wunder, das prosaisch nüchterne eben auch die nüchterne Prosa, den Schmutz und Verfall, den Hass und Lug der Parteien, die hier um das Grab des Propheten der Liebe und der Wahrheit streiten, wie sie seit Jahrhunderten schon sich gestritten haben.

Mit sehr gemischten Gefühlen verlassen wir Jerusalem, um andere Orte der heiligen Geschichte aufzusuchen. Im tiefen breiten Wüstentale jenseits der Stätte, wo einst Jericho war, begrüßen wir den schönen rasch dahinströmenden Jordan, und bald darauf breitet sich in ernster schweigender Einöde vor uns — mehr als tausend Fuß unter dem Spiegel der See — das große Naturwunder des Toten Meeres aus. Ein Wüstenritt bringt uns nach Mar Saba, dem wunderbaren Mönchskloster, das mit seinen hohen Mauern und Türmen wie eine alte Ritterburg über der wilden Schlucht des Feuertales hängt. Freundlichere Bilder folgen: Bethlehem und das uralte Hebron, die Teiche Salomos und der Berg mit Samuels Grab, dann im Norden zwischen Ebal und Garizim das paradiesisch gelegene Nablus, die Stadt der Samariter, die Ruinen der Residenz der Könige Israels, die Ebene Esdrelon, das große Schlachtfeld des Landes, jetzt ein Tummelplatz von Beduinen, die mit ihren schwarzen Zelten und ihren Herden die ganze weite Fläche bedecken. Samaria liegt hinter uns, wir betreten Galiläa, hören die Glocken von Nazai eth, besteigen den Tabor, den Berg der Verklärung, blicken von der Höhe bei Tiberias auf den im Glanz der Mittagssonne leuchtenden See Genezareth hinab, überschreiten den Kison, der Deboras Triumphlied über Sisseras eiserne Wagen hörte, und besuchen dann den waldbedeckten Karmel, um mit einem letzten Blicke von dem heiligen Lande Abschied zu nehmen.

Die Legende verlässt uns. Rasch zieht unsere Karawane durch das Gebiet, wo einst die reichen Phönizier wohnten, und wo jetzt auf der Stätte der alten Prachtstädte Tyrus und Sidon die ärmlichen Orte Sur und Saida liegen. Ein gelbes Sandgestade, angeschwemmt von der Strömung des Nil, rechts die Vorberge des Libanon mit stattlichen Dörfern von Drusen und Maroniten, bisweilen Ruinen alter Städte und Begräbnisplätze, mitunter ein weißes Kreide Vorgebirge, an dessen zernagten Klippen sich eine wütende Brandung bricht, häufig schöne von roten Oleandern umblühte Gebirgsflüsse, die raschen Laufes aus romantischer Schlucht hervorstürzend dem Meere zueilen, dann endlich das prächtige Bild von Beirut, der stattlichen Hafenstadt des südlichen Syriens.

Mit neugesammelter Kraft wird dann die beschwerdenreiche Reise über den Libanon angetreten. Auf Kletterpfaden, nur für das Bergpferd geeignet, an schaurigen Abgründen entlang, wir d der Rücken des Gebirges erstiegen. Noch ein Blick tief hinab nach rückwärts auf das weite blaue Meer, dann geht's hinunter in die Ebene und wieder hinauf nach der Kette des Antilibanon, in welcher seitwärts in der Ferne der ewige Schnee auf dem Haupte des Hermon schimmert. Ein letzter Pass, und wir schauen hinab in das östliche Quellenland, in welchem zwischen dem Gebirge und der großen syrischen Wüste die Kuppeln und Minaretts von Damaskus erscheinen.

Damaskus, von Mohammed als ein irdisches Paradies dreimal glücklich gepriesen, von arabischen Dichtern als das Muttermal auf der Wange der Welt, als das Halsband der Schönheit, als das Gefieder der Paradiesespfauen bezeichnet, entzückt auch uns wie wenig andere Städte des Orients. Das Gebirge entsendet einen seiner hellen Flüsse, um seinen Gärten Leben und Farbe zu geben; der Geist des Morgenlandes hat in dieses Gartenland die schönsten seiner architektonischen Phantasien hineingezaubert, die Wüste dahinter gibt mit ihrer Dürre und Einsamkeit die Folie zu dem bunten reichen Leben, das mit dem Wasser vom Gebirge herabgeflossen. Wir begreifen, dass die Alten den Fluss Chrysorrhoas, den goldströmenden nannten; das Gold, das uns die inneren Höfe der vornehmen Häuser, die Anzüge und Pferdegeschirre, die Waffen und Geräte dieser Wunderstadt entgegenschimmern lassen, ist mit allen den prächtigen Farben, die es umgeben, mit den stolzen Moscheen und den reichen Basaren dem Fluss entstiegen, ohne den hier nur die nackte Wüste uns anstarren würde. Da keine Weltstraße hier durchgeht, so wird das Bild welches die Straßen bieten, noch weniger von abendländischen Zügen gestört als das von Kairo, und beinahe überall begegnen wir dem Geschmack und der Stimmung, der Sitte und dem Charakter fernster mohammedanischer Vergangenheit.

Und wieder kehrt unsere Karawane ins Gebirge zurück. Wir besuchen die Tempel von Baalbek und erklettern von dort die einsame Stelle im Hochgebirge, wo die letzten der Zedern ragen, welche einst Salomo besang. Über Tripoli nach Beirut zurückpilgernd, schiffen wir uns auf einem der Dampfer ein, welche den Reisenden aus dem Süden des Pfortenreiches hinauf nach den Inseln und Städten des Nordens führen. Das köstliche Bild, das Beirut von der Reede gesehen, darbietet, erblasst allmählich, Rhodus taucht auf aus der Meeresbläue und mahnt mit seinen Ruinen aus der Zeit der Johanniter an die letzten Kämpfe, die das christliche Rittertum in diesen Meeren mit dem Halbmond bestand. Andere Inseln erinnern mit ihren Namen an den griechischen Unabhängigkeitskrieg. Rechts begleitet uns das Küstengebirge von Kleinasien, links und vor dem Bugspriet des Schiffes erscheinen in allerlei Gestalten die malerischen Felseneilande des Archipelagus. Wir haben die Welt der Bibel und des Korans verlassen, wir haben die Sonne Homers über uns, eine kurze Strecke noch, und wir begrüßen in Smyrna auch eine der sieben Städte, welche sich rühmten, den Dichter der Ilias geboren zu haben.

Der erste Gang auf das Land schon belehrt uns hier, dass wir in einer anderen Region sind, als vor unserer letzten Einschiffung. Wir sind in der Nordhälfte des Türkenreiches, die sich in ihrer Physiognomie sehr wesentlich von der südlichen unterscheidet. Zunächst ist in Ägypten und Syrien das Licht ein anderes, weißeres als hier, und so sind auch die Grundfarben der Gegenden hier andere als dort, die Grundfarben, das heißt die, in welche wir das Bild gekleidet sehen, wenn es die Phantasie daheim in träumerischer Erinnerung vor uns reproduziert. Alles im Süden erscheint uns in solchen Augenblicken mit einem warmen gelben Ton übergossen, während der Norden in der Ebene grün ist, im Gebirge in violettem Lichte schimmert.

Sodann ist das Bestimmende im Süden die Wüste mit ihrem Sand und ihrer Wasserarmut, das Bestimmende im Norden, soweit es sich um die Küstenstriche handelt, die hier allein in Betracht kommen, das Meer mit seinen Buchten und Inseln, und während dort, namentlich in Ägypten, die Palme der charakteristische Baum ist, bestimmen hier Ölbaum und Zypresse den Charakter der Landschaft. Ferner aber: wie das Land, so ist auch das Volk in den beiden Hälften der Levante verschieden. Im Süden ist allenthalben das Arabische die Landessprache, im Norden spricht das Volk nur türkisch oder griechisch. Das Haus des Ägypters und Syrers ist von Stein oder Lehm, seine Wand ungetüncht und darum weißlich oder gelblich grau, sein Dach stets platt. Unter den Türken und Griechen des Nordens dagegen treffen wir vorwiegend, an vielen Orten ausschließlich, hölzerne Häuser, verschieden gefärbte Wände und schräge rote Ziegeldächer. Tritt in Folge dessen eine Stadt des Nordens schon in weiter Ferne aus der Landschaft heraus, so ist ein Ort des Südens in vielen Fällen erst beim Näherkommen von der Wüste, die seinen Hintergrund bildet, oder von den Felsen, an denen er hängt, zu unterscheiden. Der Türke sodann gibt dem Minarett seiner Moschee eine scharfe Spitze, der syrische und ägyptische Araber lässt es oben meist gerundet enden. Jener bepflanzt seine Begräbnisstätten mit Zypressen, so dass sie Wäldchen gleichen, und schmückt die Gräber seiner Toten mit bunten Turbanen und goldenen Koransprüchen. Dieser dagegen scheint zarte Sorge für die Verstorbenen nicht zu kennen, und so sind seine Friedhöfe halbwüste Stätten, ohne Baum und Strauch, und in der Regel ohne andere Zierrat als einfache Inschriften.

Und so ließe sich der Unterschied der beiden Hälften der Türkei durch zahlreiche andere Erscheinungen verfolgen, von denen indes einige Beispiele genügen werden. Im Norden sind rote Wangen, blaue oder graue Augen keine Seltenheit, im Süden sehen uns aus den gelben und braunen Gesichtern nur tiefschwarze Augensterne an. Dort rasiert man sich bis auf die Oberlippe, hier lässt man sich den Vollbart der Patriarchen wachsen. Dort herrschen in der Tracht Fez und Jacke vor, hier der altertümliche Turban, die „Krone des Islam", die Kuffieh des Beduinen und die faltige bis auf die Knöchel herabfallende Abajeh. Im Norden tragen die Frauen Mäntel von allerlei Farben: feuerrote, himmelblaue, kaffeebraune, orangegelbe, im Süden mit Ausnahme der immer nur in blaue Baumwolle gehüllten Bauernweiber, kaum andere als weiße Überwürfe, wie in Palästina, oder schwarze wie in Ägypten. Verschieden ist die Form der Schleier, verschieden endlich auch, um mit einem Nebending zu schließen, der Tabak, mit dem man die Pfeife zu füllen pflegt. Vom Nil bis an den Taurus erstreckt sich das Gebiet des schwarzen Latakiah, weiter hinauf im Norden hat der Kaufmann nur das gelbe Kraut von Konstantinopel und Salonik feil.

Indem ich hiermit für jetzt den Überblick über das Ganze meiner Wanderung im Orient unterbreche, um zunächst im Folgenden einige der Hauptpunkte vorzüglich von ihrer malerischen Seite ausführlicher zu schildern und später in ähnlicher Weise eine Reihe von Bildern aus Griechenland zu zeichnen, sei es gestattet, noch ein Wort über den Geist des heutigen Orients und den Eindruck zu sagen, den ich von diesem Geiste mit heimnahm. Ich kann hier nur in der Kürze wiederholen, was ich in anderem Zusammenhange und breiterer Ausführung bereits zu bemerken hatte.

Der Geist des heutigen Morgenlandes wird nach einigen seiner Grundzüge vielleicht am besten begreifen, wenn man ihn mit unseren Erfahrungen über den Geist der transatlantischen Menschheit vergleicht, welche die Eigenschaften des abendländischen Kulturlebens im Extrem darstellt. Wie Amerika im eminenten Sinne die neue, die junge Welt ist, so ist der Orient die alte. Nur die bunten Farben der letzteren können darüber täuschen, und nur die Urstämme der Wüste, die nie altern, aber auch nie fortschreiten, sind von dem Vergleich ausgenommen.

Schon die Erde zeigt hier und dort eine wesentliche Verschiedenheit: im amerikanischen Westen fast überall grüne, jugendliche Wälder, Meilen auf Meilen blumiger Wiesen, volle Ströme, Berge, aus denen die Fülle des Erzes zu Tage quillt; im Osten des Mittelmeeres dagegen beinahe allenthalben baumlose Berge, gleich den dürren Rippen und Hüften des Alters, rasenlose Flächen, versiegende Gewässer, erschöpfte Bergwerke. Während dort aller Orten sich die Wildnis lichtet, die Wüste zurücktritt, erobert hier die Einöde von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr von der Kultur zurück, frisst der Ruin wie eine Krankheit in die alten Städte und Landschaften hinein, ziehen sich Wüstenstreifen wie Runzeln über das Antlitz des Landes.

Mutter Sonne hat ihr Antlitz nicht von dieser Region abgewendet, und der Segen des Regens fällt ihr wie vor Alters in den Schoß. Die Menschen sind es, die ihr Erbgut verkommen lassen, die Menschen, die es drüben jenseits des Ozeans zu pflegen und zu nutzen wissen. Hier im fernen Westen allenthalben jugendliches, rasch pulsierendes Blut, flotter Gedankengang vom Kopf bis in die Hand, behendes, keckes, oft bubenhaftes Tun und Treiben, lebhafteste, nicht selten wüste Gärung, Unternehmen auf Unternehmen von den gewaltigsten Dimensionen, stolzestes Selbstgefühl; dort im Osten und Süden des Mittelmeeres allerwärts stockende Säfte, versagende Kräfte, ein verkümmertes Gewerbeleben vom engsten Horizont, eine stehengebliebene Wissenschaft, ein erstarrtes, mit fremdländischen Mitteln mühsam im Gang erhaltenes Staatsleben, eine verfallene, zum bloßen Ritual werk eingetrocknete Religion, greisenhaftes Resignieren, brütende Beschaulichkeit.

Der Westen gibt wenig auf das Herkommen, er geht mit dem Bewusstsein, auf den Schultern seiner Väter zu stehen, bis zur Impietät. Dem Osten gilt der überlieferte Brauch höher als das Gesetz, und vielfach hört man unbillige Ansprüche damit entschuldigen oder rechtfertigen, dass es eben so Gewohnheit sei. Amerika ist ferner voll Nachahmungstrieb, voll Lernbegierde, voll Eifersucht auf fremdes Wachsen und Gedeihen. Der Orient ahmt nur notgedrungen nach, er hält es für genug, zu wissen, dass Einer ist, der Alles weis, und die Größe fremder Völker stört ihm den Schlaf niemals. Wissenschaften, die mit dem Leben zu tun haben, Geschichte und Naturkunde sind gering geachtet, als die Krone aller Gelehrsamkeit gilt die graue Scholastik. Im Gespräch mit dem Fremden ist der Amerikaner ein unermüdlicher, oft lästiger Frager, wissbegierig, wenigstens neugierig. Im Orient dagegen ist eine Unterhaltung mit Ausländern in der Regel nur ein Austausch konventioneller, seit unvordenklicher Zeit feststehender Phrasen. Wir fragen, was für ein Charakter der neue Pascha und welches seine Stellung zum Volke ist, und der Turbanträger antwortet durch die Wolken seiner Pfeife: „Allah beschütze ihn!" Wir erkundigen uns nach dem Zustand von Ortschaften, wo kürzlich Krieg oder Aufstand geherrscht hat, und die Antwort lautet: „Sie sind in der Hut Allahs!" Das Motto des transatlantischen Abendlandes ist ein ungeduldig drängendes „Go ahead!" — vorwärts, drauf, in die Schwierigkeit hinein, über das Hindernis hinweg; das Motto des Morgenlandes ein in die Fügung des Schicksals ergebenes phlegmatisches „Maschallah!“ — wie Gott will; er weiß es ja am besten, und wer kann sein Los ändern!

Den Amerikaner stellen wir uns stets arbeitend und schreitend vor, zeigt doch sein Schnitzeln, wenn er müßig ist, dass er keine reine Muße kennt, und beweist doch seine Erfindung des Schaukelstuhles, dass er selbst sitzend sich bewegen muss. Den Orientalen dagegen denken wir uns am liebsten ruhend, wo nicht auf dem Divan, doch im Sattel; denn selbst sich bewegend muss er sitzen, und nur wo Zwang und Not ihn drängen, wird er arbeiten. Seine Kleider sind malerisch, aber nicht zu raschem Gang gemacht, seine Pfeife, mit der man nicht die kleinste Arbeit verrichten kann, sticht auffallend und sehr charakteristisch gegen den kurzen Stummel aus Mississippirohr und schlechtem Ton ab, mit welchem der Amerikaner alle Arbeit besorgen kann. Der Amerikaner sieht seine Zeit wie Geld an, spricht mit dem Telegraphen, reist mit der Lokomotive, säet und erntet mit Dampf. Der Orientale weiß nicht einmal, dass die Zeit überhaupt einen Wert hat; er redet langsam, weil der Gedanke ihm in schwerfälliges, weitfaltiges Bildergewand gehüllt ist, er bewegt sich langsam in der Art der Väter von Ort zu Ort, bedient sich des Pfluges, der vor dreitausend Jahren schon seine Felder ritzte, der einfachsten Mühle, des altertümlichsten unbehilflichsten Schiffes. Der Yankee hat sein Geld in der Bank, wo es lebt und wirbt; der Türke und Araber vergräbt es, wofern er nicht Kaufmann ist, in die Erde oder trägt es eben so tot in kostbaren Säbelgriffen und Pistolenkolben, juwelenbesetzten Tschibbukspitzen und seidenen Prachtkleidern mit sich herum.

Werden wir diesen Mangel an Strebsamkeit tadeln? Wer tadelt einen Greis seiner Langsamkeit, Hinfälligkeit und Entsagung halber? Wer das Feld, das erschöpft nach der Brache verlangt? Wer den Arbeiter, der nach vollbrachtem Tagewerk ermüdet sich der Ruhe hingibt? Der Orient hat seine Arbeit getan, seine Früchte geliefert und das weitere Fruchtbringen und Schäften an die westliche Welt abgegeben, wie am Ende seiner ersten Lebensperiode an den Hellenen und den Römer, so jetzt am Ende der zweiten an die Nationen germanischen Stammes.

Von dem einstigen Schwang ist ihm nur in seinem Stolz gegenüber dem Abendlande, von seiner einstigen Größe nur in seiner Haltung ein Rest geblieben, und in dieser Haltung liegt sein einziger Vorzug vor dem Menschen des fernen Westens. Der Orientale ist ein herabgekommener Vornehmer, der Amerikaner ein emporgekommener gemeiner Mann. Selbst der niedrige Fellah, selbst der Bettler des Morgenlandes verrät nicht selten durch würdevolles Gebärdenspiel und anmutige Sprache etwas von dem Erbe einer adeligen Zeit; selbst die Uppertens und Cavaliere Amerikas zeigen häufig die gemeinen Manieren, das unsichere Selbstgefühl und die geringe Herrschaft über ihre Leidenschaften, wodurch sich der Parvenü kennzeichnet. Dort umschweben den Geist verdunkelte Erinnerungen an eine macht- und lichtvolle Vergangenheit, die der Armut und Unfruchtbarkeit der Gegenwart gegenüber wie ein Erzeugnis überirdischer Gewalten erscheint, an welterobernde Könige und Propheten, schwungvolle Dichtungen, glanzreiche Städte, Tempel und Burgen. Hier entwickelt sich ohne Himmel, ohne Poesie, ohne Wunder, aber voll Pläne und Keime für die Zukunft, eine völlig neue Welt.

Es ist Abend geworden im Morgenlande. Auf den Abend aber folgt die Nacht, wie auf das Altwerden das Sterben, und diese Katastrophe ist nahe. Die alte Zeit, im Westen längst gestorben, schickt sich auch im Osten zum Verscheiden an. Die Ruhe ist in Fäulnis, die Brache in Versumpfung übergegangen. Das Reich der Pforte weicht aus allen seinen Fugen, der Islam, einst der Mond neben der Sonne des Christentums, ist jetzt nur ein halber abnehmender Mond; die Religion Mohammeds gleicht heutzutage dem Judentume zur Zeit Christi. Sie ist zu einem leeren Gefäß, zu einem bloßen Gebäude von unfruchtbaren Formeln und Zeremonien, starren unbildsamen Dogmen geworden, nur noch von starkem Einfluss auf die Phantasie, nicht auf Herzen und Gewissen. Und Ähnliches gilt von fast allen anderen Glaubensbekenntnissen des Orients. Auch dieser hat sich die allgemeine Erstarrung bemächtigt, keine einzige ist unberührt von dem Ruin. Die orthodoxe Kirche mit ihren Popen und Mönchen steht moralisch fast genau so tief, die koptische und syrische sogar tiefer noch als der Islam, und ohne mächtige Erregung von innen oder ohne gewaltig wirkende Einflüsse von außen ist an eine Verjüngung, an den Anbruch eines neuen Lebens nicht zu denken.

So mischt sich in die Erinnerungen einer Reise in den Orient für den, der nicht bloß die Oberfläche betrachtete, stets eine gewisse Melancholie. Aber was man auch gegen die Welt des Morgenlandes sagen mag, wie tief die Völker dieses weiten Gebietes in politischer und gesellschaftlicher, in religiöser und wirtschaftlicher Beziehung im Allgemeinen herabgekommen sein mögen, und wie verfallen und unsauber manches Landschafts- und Architekturbild dieser Gegenden erscheint, sobald unsere Betrachtung ihm näher tritt: noch immer bewahrt der Orient Vorzüge, die ihn zu einem Lande der Poesie, des träumerischen Sehnens und eines hohen wissenschaftlichen Interesses für Viele machen. Hier sind die Stätten, wo einst die Quellen der Bäche und Flüsse entsprangen, aus denen der Weltstrom der Geschichte entstand, hier die heiligen Orte, wo der Baum der Religionen, welche die Erde beherrschen, seinen Wurzelstock hat, hier schweben in Wüsten und Gebirgen, um Schutt und Trümmer vor dem Auge der Erinnerung mit schwermütiger Miene, aber doch hold und hell, die Schatten der größten Zeit, welche das Geschlecht der Sterblichen bis heute erlebte. Es ist das Land der Bibel, das Land „ubi Troja fuit", es ist der beste, an erhabenen und anmutigen Erinnerungen reichste Teil des gewaltigen Römerreiches, welches der Reisende im Orient durchwandert.

Es ist wahr, die Völker des Morgenlandes sind zu Greisen geworden unter der Last der Jahre, die sie durchlebten, unter den Störungen, welche unzählige Umwälzungen in ihrem Organismus hervorriefen; aber noch immer lebt selbst in den verkommensten etwas von dem Glänze ihrer Vergangenheit. Es ist wahr, die Landschaften sind entfernt nicht mehr was sie waren. Weite Striche haben sich aus blühenden Gefilden zu Einöden, prächtige Städte zu Schutthaufen umgewandelt. Stille herrscht, wo einst munteres Leben sich zur Volksversammlung oder zum Tempel drängte, glanzvolle Kampfspiele einen weiten Ring von Zuschauern herbeiriefen, mächtige Flotten von Handelsschiffen ihre Segel entfalteten. Wo einst Wälder mit stolzen Wipfeln rauschten, flüstert der Wind durch niederes Gestrüpp, gleitet er um kahle Felsscheitel hin, und wo einst Flussgötter an wohlgefüllter Urne saßen, sind von den Gewässern, die sie daraus dem Vater Ozean zusandten, fast nur noch die Namen und die Betten übrig. Aber der tiefblaue Himmel, die herrlichen Formen der Berge und Inseln, die warmen Farben des Morgenlandes glühen uns noch immer entgegen in ewig jugendlicher Glut, wie die südliche Sonne, die Quelle ihrer Schönheit.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bilder aus dem Orient
001. Alexandrien

001. Alexandrien

002. Kairo, von der Wüste aus gesehen (Osten)

002. Kairo, von der Wüste aus gesehen (Osten)

003. Kairo, von den Anlagen des Ibrahim Pascha aus gesehen (Westen)

003. Kairo, von den Anlagen des Ibrahim Pascha aus gesehen (Westen)

004. Auf dem Kastell von Kairo

004. Auf dem Kastell von Kairo

005. Mokattam-Gebirge bei Kairo

005. Mokattam-Gebirge bei Kairo

006. Insel Roudali (im Nil)

006. Insel Roudali (im Nil)

007. Alt-Kairo

007. Alt-Kairo

008. Obelisk von On (Heliopolis)

008. Obelisk von On (Heliopolis)

009. Die Sphinx und die Pyramiden

009. Die Sphinx und die Pyramiden

010. Jaffa

010. Jaffa

011. Jerusalem (Ölberg, Thal Josaphat, Engaddi, Frankenberg)

011. Jerusalem (Ölberg, Thal Josaphat, Engaddi, Frankenberg)

012. Jerusalem (vom Ölberg gesehen)

012. Jerusalem (vom Ölberg gesehen)

013. Jerusalem (Kirche der Tempelritter)

013. Jerusalem (Kirche der Tempelritter)

014. Jerusalem, Platz des salomonischen Tempels

014. Jerusalem, Platz des salomonischen Tempels

015. Gräber im Tal Josaphat (Kidron, Garten Gethsemane, Ölberg)

015. Gräber im Tal Josaphat (Kidron, Garten Gethsemane, Ölberg)

016. Bethanien (Ölberg)

016. Bethanien (Ölberg)

017. Jericho (Königsquelle)

017. Jericho (Königsquelle)

018. Der Jordan

018. Der Jordan

019. Mar Saba (Kidron-Schlucht)

019. Mar Saba (Kidron-Schlucht)

020. Bethlehem (Totes Meer, Feld der Hirten, Frankenberg)

020. Bethlehem (Totes Meer, Feld der Hirten, Frankenberg)

021. Sichern (Nablus) Nazareth

021. Sichern (Nablus) Nazareth

022. Nazareth

022. Nazareth

023. See Genezareth

023. See Genezareth

024. Beirut

024. Beirut

025. Damascus

025. Damascus

026. Baalbek (Heliopolis nebst Libanon)

026. Baalbek (Heliopolis nebst Libanon)

027. Insel Rhodus

027. Insel Rhodus

028. Kastell von  Smyrna (nebst den Wasserleitungen)

028. Kastell von Smyrna (nebst den Wasserleitungen)

029. Karawanenbrücke bei Smyrna

029. Karawanenbrücke bei Smyrna

030. Smyrna

030. Smyrna

031. Nymphäon (Nimfi)

031. Nymphäon (Nimfi)

032. Bild des Sesostris bei Nymphäon

032. Bild des Sesostris bei Nymphäon

033. Gerusalemme

033. Gerusalemme

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