Rundschau.

Wir stehen auf einem aller Vegetation baren Schutthügel, über uns der tiefblaue Dom eines wolkenlosen Himmels; ein leiser Nordwind wehrt den glühenden Strahlen der in hohem Bogen hinziehenden Sonne, uns zu versengen, die lechzende Atmosphäre lässt den Blick mit durchsichtiger Klarheit bis an den fernen Horizont hinschweifen und rings um uns her ist greifbar rein das Landschaftsbild gebreitet. Ein grüner Saatteppich bekleidet das flache Tal, das gegen Norden zieht und aus dem von Strecke zu Strecke ein Palmenhain auftaucht. Ein breiter Wasserstreif fließt schlängelnd seiner Mitte entlang, einziger Zeuger und Säuger des vom Himmel verlassenen Bodens. Gegen Westen und Osten besäumt sich das Tal in greller Grenzlinie durch die kahle gelbgraue Wüste, welche bald in einer unübersehbaren sanft ansteigenden Plateaufläche sich verliert, bald plötzlich in starren, schroffen Felsmassen emporsteigt.

Zu unseren Füßen aber liegt das schwer zu enträtselnde Häusergewirr einer ansehnlichen Stadt. Unter den meist einstöckigen, von nur wenigen Lichtscharten durchbohrten flachdachigen, oft in antiker Weise gegen oben sich verjüngenden Lehmwürfeln, aus welchen sie besteht, ragt eine große Anzahl Nadeln hoch in die Lüfte, wölben sich gewaltige Kuppeln auf, erheben sich saubere viereckige Zinnentürme, in deren vieldurchlöcherten Wänden sich ein reges Taubenleben entfaltet, und das Lehmgrau der Häuser ist reich durchsetzt mit dem Immergrün ihrer Mitte entsteigender Palmen und Laubbäume. An den meisten Gebäuden lässt sich der nagende Zahn der Zeit nicht verkennen, ein namhafter Teil der Stadt liegt stets in Ruinen. Mit Mühe entdecken wir in dem Profil dieses Labyrinths einige gröbere Adern und Zweige, wo die Häuser von einander gerückt in deutlichen Reihen sich ordnen und die da und dort herzartig sich erweitern. Da gibt sich dann ein dichtes Drängen und Wallen des menschlichen Verkehrs kund, den Körperchen in den Kapillaren des Blutes gleich.


Das lauschende Ohr unterscheidet in dem allgemeinen Gemurmel dieser menschlichen Wohnstätte das widrige Kläffen zahlreicher Hunde, den trompetenartigen Schmerzensschrei brünstiger Esel, das unmutige Brüllen störrischer Kamele, das Geschrei spielender und raufender Gassenjungen, die Warnungen aufrennender Eselsbuben, von den Märkten her die unablässigen Ausrufungen der Mäkler und Kleinverkäufer, von den Zinnen der Türme die helle melodische Stimme der Mahner zum Gebet, dann und wann auch den wimmernden Gesang eines liebestrunkenen Jünglings oder das Festjubilieren einer Schalmei samt Nachdruck von Pauken und Händegeklatsch.

Wir vermissen, vom geschäftigen Norden gekommen, das Pflastergerassel hinfliegender Wagen; die langen Schornsteine haben noch nicht den Sieg über die Türme der Paläste, Tempel und Taubenschläge gewonnen, noch nicht ist von dem Klappern der Maschine, dem Klopfen und Hämmern des Gewerbefleißes die Stimme der Menschen und Tiere zurückgedrängt.

In einem schattigen Hain vor der Stadt breitet ein Mann mit vollem Bart und markigen Zügen in Ernst und Ruhe einen Teppich auf der Erde aus; sein Haupt deckt ein großes Leinwandgewinde, der Turban, eine volle Toga mit weiten Ärmeln wallt über seinen tiefgebräunten Körper bis zu den Füßen herab; er zieht seine roten Pantoffeln aus, tritt andächtig in fassungsvoller Stimmung auf den Teppich, wendet sein Gesicht nach Südosten und beugt sich nach unabänderlicher Regel vor dem Allmächtigen. Dort sitzt oder hockt ein Landessohn und saugt aus langer Pfeife und kleiner Schale die erlaubten Genussmittel Tabak und Kaffee in stillem Humor. Um die Mauer jenes Hauses schleicht ein gespensterhaftes Wesen, die ganze Figur vom Scheitel bis zu den allein sichtbaren Füßen in einen faltenreichen weiten Mantel sorgsam gebettet, es soll ein Glied des schönen Geschlechtes sein.

Wir haben genug gesehen, und wären wir von einem Genius im Dunkel der Nacht auf jenen Schutthügel verschlagen worden, um zu wissen, dass wir vor einer Stadt im Orient des Islam stehen, ferne vom Abendland, weit ferner selbst für den Gedanken als das neue transatlantische Abendland. Wir befinden uns auf dem klassischen Boden des uralten Nil, weit oben im Süden Ägyptens, wo der Mercur des neunzehnten Jahrhunderts zwar schon begonnen hat, seine Drahtfühlfäden hinzustrecken, wo er mit seinen dampfbeschwingten Sandalen wenigstens auf der Wasserstraße wohl dann und wann ab- und zugeht, in seinem Gefolge die engbehosten Träger der Zivilisation, wo er sich aber noch gar nicht heimisch fühlt, und das Volk in Ursprünglichkeit seines Daseins sich freut.