Vorwort von Dr. Georg Schweinfurth

Vereinsamt und abgeschlossen in seinen Forschungen, aber ohne der menschlichen Gesellschaft, die sich ihm hier in ärmlichstem Gewande zeigte, selbstgenügsam den Rücken zu kehren, lebte er fern von dem Hochmutsteufel der ,,einzig fühlenden Brust unter Larven“, ein Mensch unter Menschen. Unter Fischern und Schiffern, unter Pilgern und Kameltreibern, kleinen Händlern und armen Schreiberseelen hat unser Menschenfreund seine besten Jahre geopfert. Der Gelehrte, der Naturforscher vor Allem, dessen Ideal überall die Natur, kann nicht verwildern in der Einöde.

Nicht ohne Grund mag Manchem das Leben der höheren und höchsten Schichten in der heutigen Bevölkerung Ägyptens anekeln. All ihr Dichten und Trachten gipfelt in schmutziger Geldgier und in schamloser Knechtschaft vor dem Mammon des Besitzes; jedes Verständnis ist ihnen fremd für Dinge, die nicht in klingender Münze ein Äquivalent finden. Da sind Menschen ohne Charakter, ohne Nationalgeist und Gewissen, aus Feigheit ebenso unfähig zum Verbrechen, wie zu elend zu irgend einem Werke der Großtat. Aber ein offenbares Unrecht begeht Jeder, der in seiner Beurteilung des Volkscharakters diesen Widerwillen der großen Masse entgelten lässt. Wenn der Arme geizig, der Unterdrückte feig erscheint, so beweist das noch lange nicht, dass sie dafür in der Summe ihrer vorzüglichen Eigenschaften uns Europäern, die wir unter minder glücklichem Himmel uns unendlich glücklicherer sozialer Zustände erfreuen, nicht weit überlegen sein könnten. Um aber völlig gerecht zu sein, müssen wir stets bei unserem Urteile darauf bedacht sein, nur Gleichartiges einander gegenüberzustellen, und hierin fehlen die Meisten, welche, sobald sie sich an Sittenschilderungen der gemeinen Ägypter wagen, immer das glückliche Loos unserer mittleren Gesellschaft vor Augen haben. Oft freilich geht ihnen eine gründliche Kenntnis unserer arbeitenden Klassen ab. Ihr Loos aber macht die Fellahin in der Tat nur der Hefe unserer niedrigsten Volksschichten vergleichbar, und von solchem Gesichtspunkte aus betrachtet, müssen sie uns bewunderungswürdig erscheinen. Fast aller Mittel einer Volksbildung beraubt, und nach oben zu ohne irgend ein nacheifernswertes Vorbild der Moral, wachsen sie nicht anders auf als Wilde; dennoch sehen wir sie in manchen Tugenden exzellieren, deren sich bei uns die Weisesten nur mit Mühe befleißigen. Ihr Leben ist das der geregeltsten Ordnung und sie sind die höflichsten und manierlichsten Menschen von der Welt.


Abgesehen von dem vertrauten Umgange mit einer großen Menge der unteren und mittleren Volksklassen in verschiedenen Teilen Ägyptens kamen dem Verfasser natürlich auch die Befugnisse zu Statten, welche ihm als Arzt der Regierung zu Gebote standen. Es ist Sache des diagnostischen Scharfblicks der Mediziner, die geheimsten Falten des menschlichen Herzens zu ergründen. Solche Kenntnis und Erfahrung durfte nicht eines Mannes Besitztum bleiben. Schon bei meinem ersten Besuche in Koseir empfahl ich dem Freunde das seit so langer Zeit brachliegende Feld der ägyptischen Volks-Sitten zu kultivieren. Er solle sich Lane zum Vorbild nehmen, das gäbe alsdann einen Appendix zum Bädeker der Zukunft.

Meine Wünsche sind in Erfüllung gegangen. Auch Ägypten hat nun seinen Bädeker erhalten, einen Führer durch das alte Wunderland, der alles bisher Dagewesene weit in den Schatten stellt, und Khinzingers Schilderungen werden keiner auch noch so zusammengedrängten Reisebibliothek eines Nil-Touristen in Zukunft fehlen dürfen.

Über vierzig Jahre sind verflossen, seit Edward Lane seine ,,manners and customs of the modern Egyptians“ der Öffentlichkeit übergab. Seine Schilderungen sind unübertroffen , ja sie erlangten im Lauf der Jahre einen gewissen Ruf der Klassizität, und der beste Beweis von ihrer Unersetzlichkeit schien in dem Umstände geboten, dass kein neuer Autor es wagte, auf unabhängiger Bahn seinen Spuren zu folgen.

Groß ist indes die Masse der, in genanntem Zeiträume erschienenen Werke, welche Ägypten, sein Volk und das Land zum Gegenstand hatten. Hofgeschichten und Palastintrigen aus Mehemed Alis Zeit haben allein ganze Reihen von Bänden angefüllt, oft von Leuten erzählt, die selbst im vornehmen eitlen Weltgetreibe verkommen waren. Dann waren es wieder phantastisch aufgeputzte Romane oder in den Hotels von Kairo aufgetischte Klatschgeschichten, welche als „Geheimnisse von Ägypten“ und wohlfeile Eisenbahnlektüre durch die Welt liefen. Eine Flut von beiläufigen Reise-Erinnerungen, wo Erlebnisse während der dreimonatlichen Dahabiefahrt zum Besten gegeben werden, oder weniger als das, wechselte ab mit fachmännischen Werken von kundiger und gewandter Hand. Die deutsche Reiseliteratur hat sich der letzteren nicht zu schämen, und Werke wie die eines v. Kremer, Stephan, Lütke haben sich einer günstigen Aufnahme in den weitesten Kreisen zu erfreuen gehabt ; allein sie alle können nicht prätendieren, was Studium der Volksbräuche anbelangt, mit den Aufzeichnungen eines Mannes zu wetteifern, der sich dem Gegenstande mit so vieljährigem und anhaltendem Fleiße gewidmet hat , wie Dr. Klunzinger, und dessen Vertrautheit mit der arabischen Umgangssprache *) überhaupt nur in ganz vereinzelten Fällen in Ägypten erreicht worden ist.

Das vorliegende Werk, schon in seiner äußeren Gestalt und Anordnung des Stoffes durchweg neu und eigenartig, ist in der Tat als eine Gabe dem wissbegierigen Publikum zu empfehlen, welche eine noch gänzlich offene Lücke in unserer Kenntnis des heutigen Ägyptens ausfüllt. Lane, so zuverlässig und ausführlich auch seine Schilderungen sein mögen, hat im Grunde genommen doch nur großstädtische Verhältnisse geschildert. Eine schwache Seite seines Werks ist die nur ungenügend ausgeführte Schilderung der ägyptischen Christen. Sein Beobachtungsfeld war die alte prächtige Kalifenstadt mit den unzähligen Festen und der vergnügungssüchtigen Bevölkerung einer Tyrannenresidenz. In schlichteres Gewand ist ägyptisch arabische Volkssitte durch Klunzingers Skizzen gehüllt, aber desto ungeschminkter, naturwahrer erscheinen die Bilder.

Es ist nicht des Verfassers Art, sich seinem Leser als Sittenrichter aufzudrängen, Urteile und Schlussfolgerungen aus den geschilderten Verhältnissen zu ziehen, wo der wahre Tatbestand einem Jeden gestattet, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Und er hat wohl daran getan, diese gefährliche Klippe zu meiden, wo die Ideen der Menschen so vielgestaltig sind wie ihre Köpfe. Mindestens entgeht er auf diese Art dem höhnenden Zuruf des Stubengelehrten, welcher ihm vorhalten würde, dass es demjenigen, der seine besten Jahre unter Menschen von solcher Bildungsstufe verlebt, nicht zu verargen sei, wenn er im logischen Denken sich wenig geübt zeige.

Dass die Tatsachen reden, war des Verfassers hauptsächlichstes Bemühen. Ein überschwänglich poetisches Gemüt wird vielleicht die üblichen Naturschilderungen als Rahmen des Sittenbildes und in letzterem Fall selbst den idyllischen Hauch vermissen, mit welchem unsere Schriftsteller, oft vom Weltschmerz oder von anderem Aberglauben angekränkelt, ihre Schilderungen zu beleben vermeinen. Vor dem nüchternen Forscherblicke des Arztes und Zoologen hat das Alles keinen Bestand; wie sein Skalpell die Fäden der geheimnisvollsten Gewebe zerteilt, in denen das unbewusste Leben pulsiert, so wirft sein Mikroskop Licht auf eine Welt der Rätsel, von denen das gewöhnliche Auge keine Ahnung hat. Ich beglückwünsche meinen Freund, dass er nicht in den Fehler seiner Zeitgenossen verfallen ist, verfeinerte, vielleicht gekünstelte Gefühle seinen Personen zu unterschieben, wie diese in der niederen Sphäre des Lebens, im Kampfe und Ringen um dasselbe, gar nicht Zeit finden können sie zu haben. Mögen Andere ihn ,, ausschreiben“, — und wie leicht wird es nun sein, einen Roman mit ägyptischer Lokalfärbung zusammenzusticken nach solchem Muster !

Kairo, im November 1876.

Georg Schweinfurth.

*) Dr . Klunzinger bereitet ein umfangreiches Werk, welches das in Ägypten gebräuchliche Idiom des Vulgär-Arabischen zum Gegenstande hat, zur demnächstigen Publikation vor.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bilder Oberägypten, der Wüste und dem Roten Meere