8. Mittel gegen die Trunksucht

Die Sozialwissenschaft ist bestrebt, zum Verständnis aller Erscheinungen des Volkslebens durchzudringen. Wo irgend eine Erscheinung in großem Maßstabe auftritt, werden wir zu untersuchen haben, welche allgemeine Ursachen ihr zu Grunde liegen; und wenn es uns gelingt, diese Ursachen zu erkennen, so werden wir auch Aussieht haben, die Mittel zu ihrer Abhilfe auf ihre voraus sichtliche Wirksamkeit zu prüfen und dasjenige zur Anwendung zu bringen, welches am meisten Erfolg verspricht. Wir können uns nicht damit begnügen, das Laster der Trunksucht, wenn sein Vorhandensein oder gar seine Zunahme gegen frühere Zeiten festgestellt sein sollte, nur als einen Ausfluss der schlechten Eigenschaften in der menschlichen Natur zu verdammen oder zu beklagen. Wir überlassen es den Theologen oder Philosophen, zu untersuchen, ob der Mensch von Natur gut oder böse ist. Wir versuchen, die Erscheinungen der menschlichen Gesellschaften zu verstehen, indem wir womöglich die Art ihres Entstehens ergründen. Wir können mit dem Philosophen sagen:

„Alles, was ist, ist vernünftig“,


wenn wir den Satz so deuten, dass es einen Grund geben muss, warum es gerade so und nicht anders geworden ist. Dieses „Geworden“ ist der Schlüssel zum Verständnis. Denn nichts in der Natur ist heute so, wie es gestern war, alles ist entstanden aus dem Vorhergehenden und von diesem wie von den Bedingungen, unter denen es entstanden ist, hängt es ab, wie es geworden ist.

Aber gerade hierin liegt die große Schwierigkeit, welche sich der sichern wissenschaftlichen Erkenntnis entgegenstellt. Der Bedingungen, welche auf unser Gesellschaftsleben Einfluss haben, sind so viele, dass es sehr schwer wird, sie alle in ihrem wahren Wert in Rechnung zu ziehen. Darum kann sich die Wissenschaft nur allmählich vervollkommnen und nur in kleinen Schritten ihrem Ziel nähern. Wer aber um deswillen den Wert der wissenschaftlichen Untersuchung unterschätzt, wird deshalb nicht schneller und sichrer vorwärts kommen. Er gleicht dem ungeübten Bergsteiger, welcher glaubt, mit wenigen Schritten den Gipfel zu erreichen, während der Geübte, der Hindernisse sich bewusst, langsam und auf Umwegen, aber sicherer ans Ziel gelangt.

Wir wollen nicht die Frage erörtern, wie die Menschen zur Kenntnis der alkoholischen Getränke gekommen sind. Diese Entdeckung verliert sich in den Zeiten des grauen Altertums. Aber wir können untersuchen, was die Menschen jetzt, wo sie jenes „Feuerwasser“ mit allen seinen guten und schlechten Eigenschaften kennen, dazu treibt, sich desselben zu bedienen und sich seinen verderblichen Wirkungen hinzugeben, aller Warnungen zum Trotz, die durch zahllose Beispiele vor aller Augen offen daliegen.

Für einen großen Teil unsrer Bevölkerung ist der „Kampf ums Dasein“ ein sehr harter. Nur mit schwerer Arbeit erwerben sie die Mittel zur Stillung des Hungers, zur Befriedigung des Bedürfnisses an Kleidung, Obdach, Erwärmung. Wie kann es da wunderbar sein, dass solche Leute mit Gier nach einem Mittel greifen, welches ihnen schnell und billig verschafft, wonach sie sich sehnen, das Gefühl der Wärme und der Sättigung, die, wenn auch vorübergehende, Erleichterung der Anstrengung. Aber diese Leute sind es nicht allein, die den Schnaps aufsuchen. Auch bei vielen andern besteht ein Missverhältnis zwischen Leistungsfähigkeit und Anforderungen an dieselbe, seien sie nun rein körperliche oder geistige. Überarbeitung, Ausschweifungen aller Art, Gemütserregungen, Sorgen vermindern die Leistungsfähigkeit. So entsteht das Bedürfnis nach einem Genussmittel, welches für die gesamte Körpertätigkeit ungefähr dieselbe Rolle spielt wie die Gewürze für die Verdauung, Es würde ein vergebliches Bemühen sein, diese Genussmittel ganz beseitigen zu wollen. Die eifrigsten Predigten und die bestgeschriebenen Traktätchen der Mäßigkeitsapostel haben sich kaum eines nennenswerten Erfolges zu rühmen. Wir müssen das vorhandene Bedürfnis anerkennen und mit ihm rechnen.

Aber das Mittel trägt in sich den Keim zur Entstehung des Missbrauchs. Das ergibt sich aus der Art seiner physiologischen Wirkung, und deshalb ist es auch ganz unwahrscheinlich, dass durch Strafandrohungen etwas zu erreichen sein wird. Es fällt außerhalb des Rahmens meiner Erörterungen, zu untersuchen, wie weit es juristisch zulässig sein kann, das durch Trunkenheit erregte öffentliche Ärgernis unter Strafe zu stellen, oder die Frage anders zu regeln, wie weit die Trunkenheit als Milderungsgrund bei der Strafabmessung zu gelten habe. Aber das muss ich betonen, dass durch derartige Maßregeln eine Verminderung der Trunksucht nicht zu erzielen ist. Haben doch die viel strengeren Strafandrohungen früherer Zeiten nichts zu nützen vermocht. Im Gegenteil, alle Tatsachen beweisen, dass die Trunksucht bei uns viel geringer ist als in Ländern mit barbarischen Strafgesetzen und jetzt geringer, als sie früher war. Dies ist meiner Überzeugung nach dem Umstände zuzuschreiben, dass sich die durchschnittliche Lebenshaltung der ärmeren Volksklaasen (der Standard of life, wie es die Engländer nennen) gehoben hat. Und wenn wirklich in den letzten Jahren wieder eine, im Vergleich zu früheren Zeiten glücklicherweise doch nur geringe Zunahme eingetreten ist, so hängt dies sicher mit dem Stillstand in jenem Fortschritt zusammen, welcher im Gefolge wirtschaftlicher Krisen nicht ausbleiben konnte und welcher — leider! — durch eine unzweckmäßige Steuerpolitik begünstigt worden ist.

Wirkliche Abhilfe wird also nur auf zwei Wegen zu erreichen sein, entweder durch Beseitigung der Ursachen des Bedürfnisses, oder durch Darreichung eines andern Genussmittels, welches das Bedürfnis eben so gut befriedigt, aber weniger gefährlich ist.

Wir können wohl kaum hoffen, die erstgenannte Aufgabe ganz zu erfüllen, aber wir können viel tun, um ihr einigermaßen gerecht zu werden. Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des Volkes, Erleichterung der Möglichkeit zureichender und gesunder Ernährung, guter Beheizung der Wohnungen und alle sonstigen, das Behagen des Daseins vermehrende Maßregeln, das sind die Mittel, welche einen sichern Erfolg in Aussicht stellen. Der gutgenährte Arbeiter braucht keinen Schnaps, um sich bei schwerer Arbeit aufrecht zu halten. Es ist nicht richtig, dass dieser ihm bei seiner Arbeit einen wirklichen Vorteil gewähre; im Gegenteil, der Schnapstrinker wird hinter dem enthaltsamen, aber gutgenährten Arbeiter zurückbleiben. Das behaupte ich nicht bloß auf Grund theoretischer Erwägungen, sondern auch gestützt auf vielfältige Beobachtungen in den verschiedensten Lebenslagen, in verschiedenen Gegenden Deutschlands und des Auslands, auf dem Lande und in großen und kleinen Städten. Wenn hier zu Lande die Leute mähen, so erhalten sie neben ihrem sonstigen Tagelohn eine außerordentliche Zulage von einem Liter Bier, Brot und Wurst; und sie leisten dabei mehr als die Schnapstrinker. Im Kriege und bei Marschübungen im Frieden habe ich mich davon überzeugt, dass die Schnapstrinker unter den Soldaten auf die Dauer weniger zu leisten imstande waren als die Mäßigen. Ich habe in allen diesen Lagen immer nur Nachteile vom Schnapsgenuss gesehen. Kräftige junge Leute, welche glaubten, zur Feldausrüstung des Soldaten gehöre nun einmal die mit Schnaps gefüllte Feldflasche, boten nach kurzer Zeit alle Zeichen einer akuten Alkoholvergiftung, und es gehörte die ganze Energie des Arztes dazu, ihnen das Törichte ihrer Handlungsweise klar zu machen und sie noch zur rechten Zeit vom Verderben zu retten. Wer freilich einmal der chronischen Alkoholvergiftung verfallen ist, bei dem ist es etwas anderes. Ein solcher hat eben schon die normale Herrschaft über seine Muskeln verloren; er kann nur noch etwas leisten, wenn er getrunken hat und er sinkt so immer tiefer in die Umgarnung des heimtückischen Feindes, in dessen Gewalt er sich begeben hat, der von seinem Marke zehrt und nicht eher ruht, als bis er ihn zu Grunde gerichtet hat. Aber gerade weil dies die notwendige Folge des Schnapsgenusses ist, deshalb können wir nicht dringend genug vor dem Irrtum warnen, als sei der Schnaps eine Notwendigkeit. Wer dem armen Arbeiter das sagt, der ladet eine schwere Verantwortung auf sich. Er gleicht demjenigen, welcher dem Armen rät, sich an einen bösen Wucherer zu wenden, der ihn erbarmungslos aussaugen wird. Wer ein gesichertes und reichliches Auskommen hat, der darf ja wohl einmal eine außerordentliche Ausgabe wagen, eine Anleihe auf Kosten seiner zukünftigen Einnahmen machen und darf hoffen, seine Vermögensverhältnisse durch spätere Einschränkung wieder ins Gleichgewicht zu bringen. So auch darf der reichlich Genährte durch einen mäßigen Alkoholgenuss sich zu einer außergewöhnlichen Arbeitsleistung anspornen, weil er in der Lage ist, den Verlust wieder einzubringen. Aber wehe dem Armen, der sich dieses gefährlichen Mittels bedient. Er ist unrettbar verloren.

Wenn wir also der armen, arbeitenden Bevölkerung wirklich nützen wollen, so dürfen wir ihr nicht Gift statt Brot reichen. Wir müssen alles vermeiden, was sie zwingt, sich dem Schnapsgenuss zu ergeben. Wir dürfen ihr nicht die notwendigsten Lebensbedürfnisse verteuern, wie es leider bei uns geschehen ist. Wir dürfen uns keiner Täuschung darüber hingeben, dass ein großer Teil unsrer Bevölkerung tatsächlich an der Grenze der Möglichkeit steht, die allernotwendigsten Lebensbedürfnisse eben noch bestreiten zu können. Jede noch so kleine Verschiebung der Preisverhältnisse gibt diese dem wirklichen Mangel preis, und dieser Mangel ist der wirksamste Antrieb, sich dem Schnaps zu ergeben. Die unzureichende Ernährung reicht nicht mehr aus, die Arbeitsfähigkeit zu erhalten, und so wird zu dem künstlichen Reizmittel gegriffen. Und bald bleibt es nicht mehr bei dem seltenen Genuss, bald wandert jeder verdiente Groschen, statt zum Bäcker, in die Schenke. Bald kommt es dahin, dass die hungernde Familie vergessen wird und alles nur der nimmer zu stillenden Gier nach Alkohol geopfert wird.

Der Menschenfreund, der praktisch mit diesen Leuten zu thun hat, der Gutsherr oder Fabrikant, der viele Arbeiter beschäftigt, kann vieles thun, dem Übel zu steuern. Er gebe den Leuten Gelegenheit, sich billig und gut mit den nötigen Lebensbedürfnissen zu versorgen. Er begünstige die Gründung von Konsumvereinen, Sparkassen und andern nützlichen Einrichtungen. Er sorge für gute, gesunde, im Winter genügend erheizte Wohnungen. Er mache seinen Einfluss in Staat und Gemeinde geltend, um Fehler in der Steuergesetzgebung zu verhüten und zu beseitigen, welche dahin wirken, eine billige und gute Ernährung zu erschweren, und er wird belohnt werden, nicht nur durch das Bewusstsein, viele seiner Mitmenschen vor dem moralischen und physischen Verderben bewahrt zu haben, sondern auch durch die erhöhte Leistungsfähigkeit seiner Arbeiter, durch, die Stetigkeit und Freudigkeit, mit der sie ihm dienen, die der Arbeit tausendfaltig zu gute kommen wird.

Wenn wir auf diesem Wege zwar viel erreichen aber doch nicht erwarten können, das Bedürfnis nach stark erregenden Genussmitteln ganz zu beseitigen, so bietet sich nun noch der andre Weg, dem Bedürfnis durch ebenso wirksame aber weniger gefährliche Mittel entgegenzukommen. Wenn wir auch nicht in der Lage sind, den Menschen befehlen zu können, womit und wie sie ihre Bedürfnisse befriedigen sollen, so lehrt uns doch die Erfahrung, dass sie stets dasjenige Mittel wählen, welches ihnen am bequemsten zugänglich ist und am meisten ihren wahren Bedürfnissen entspricht. Ausnahmen von dieser Regel kommen Ja vor, aber sie sind zum Glück selten. Wenden wir das auf unsern Fall an, so sehen wir insbesondere, dass von den zwei hauptsächlichsten Mitteln zur Befriedigung des Bedürfnisses nach Spirituosen, Bier und Branntwein, das letztere um so reichlicher benutzt wird, je schwieriger das erstere in genügender Qualität und Menge zu erlangen ist. Es zeigt sich das ganz deutlich bei Vergleichung des Bier- und Branntweinkonsums in den einzelnen Gegenden unsres Landes. Wo das erstere billig ist, wird wenig Branntwein getrunken, und umgekehrt. Im Reichssteuergebiet (Deutsches Reich mit Ausnahme von Bayern, Württemberg, Baden und Elsass-Lothringen) wurden im Etatsjahr 1879/80 4.076.246 Hektoliter Spiritus zu 50% Tralles erzeugt und es entfielen auf den Kopf der Bevölkerung 11,6 Liter Branntwein; an Bier wurde gebraut 19.985.000 Hektoliter oder auf den Kopf der Bevölkerung 60 Liter Bier. Dagegen kamen auf den Kopf der Bevölkerung an Bier:

In Bayern....................19.152.000 hl auf den Kopf 232 1,
In Württemberg............3.173.000 hl auf den Kopf 162 l,
In Baden.......................1.086.000 hl auf den Kopf....70 l,
In Elsass-Lothringen.......788.000 hl auf den Kopf.....52 l

Wie man sieht, ist der Konsum an Bier in Bayern überwiegend. Bei den andern süddeutschen Ländern ist der Weinkonsum in Anschlag zu bringen. Vergleicht man aber nur Bayern mit dem Reichssteuergebiet, so ist der erheblich größere Bierkonsum sehr in die Augen springend. Zwar ist die in den oben gegebenen Zahlen ausgedrückte Produktion nicht gleichbedeutend mit dem Konsum wegen des Exports. Aber dieser beträgt nur einen geringen Teil der Produktion.

Es scheint nun aber in der Tat, dass der Bier- und Branntweingenuss sich gegenseitig in einer Weise ergänzen, dass die Menge des genossenen Alkohols nahezu dieselbe bleibt. Es wurden im Jahre 1879/80 produziert pro Kopf der Bevölkerung:

............................................Bier....................Branntwein.
In Bayern............................232 1.........................2,4 l,
In Sachsen..........................105 l...........................9,6 l,
In Schlesien.........................48,7 l.......................15,8 l,
In Pommern.........................31,1 l.......................20,5 l,
In Westpreußen...................30,8 l.......................20,8 l,
In Posen...............................21,3 l.......................34,8 l

Rechnen wir nun das Bier im Durchschnitt zu 5%, den Branntwein zu 50% Alkoholgehalt, so können wir folgende Mengen von Alkohol für den Kopf der Bevölkerung in diesen Gegenden ausrechnen:

Bayern .................2,4 + 23,2 = 25,6 d. i. ......12,8 reiner Alkohol
Sachsen.................9,6 +10,5 = 20,1 d. i. ......10,0 reiner Alkohol
Schlesien.............15,8 + 4,9 = 20,7 d. i. ......10,4 reiner Alkohol
Pommern.............20,5 + 3,1 = 23,6 d. i. ......11,8 reiner Alkohol
Westpreußen.......20,8 + 3,1 = 23,9 d. i. ......12,0 reiner Alkohol
Posen...................34,8 + 2,1 = 35,9 d. i. ......18,0 reiner Alkohol

Bringen wir nun in Anschlag, dass Bayern verhältnismäßig viel Bier und die Provinz Posen viel Sprit exportiert, so können wir wohl den Schluss wagen, dass die absoluten Mengen von Alkohol, welche in diesen verschiedenen Teilen unsres Landes konsumiert werden, nicht sehr von einander abweichen. Die trotz aller Verschiedenheiten im einzelnen doch vorhandene Übereinstimmung in den klimatischen und sozialen Verhältnissen hat also zu einem ungefähr gleichen Verbranch an diesem Genussmittel geführt. Und doch, wie verschieden ist die Wirkung! Trotz aller Nachteile, welche ein unmäßiger Biergenuss herbeiführt, sind seine schädlichen Wirkungen höchst unschuldiger Natur im Vergleich zu den Verwüstungen, welche der Branntwein anrichtet. Hier in Erlangen, wo doch gewiss viel Bier getrunken wird, jedenfalls mehr, als nach unsrer Ansicht nötig wäre, sind doch die eigentlichen Säuferkrankheiten, das Delirium tremens, die Lebercirrhose u. s. w., fast ganz unbekannt. Nur bei schweren Erkrankungen anderer Art, welche die unmäßigen Biertrinker gelegentlich befallen, wie Lungenentzündung u. dergl., zeigt sich der ungünstige Einfluss jenes Missbrauchs durch den schweren Verlauf und die größere Sterblichkeit, sonst aber ist der Gesundheitszustand hier ein entschieden günstigerer als in den Schnapsländern. Die nicht wegzuleugnende Schwerfälligkeit und Trägheit des Geistes, die Neigung zu Fettleibigkeit, und was sonst als Folgen übermäßigen Biergenusses auftritt, sind doch sehr unschuldiger Art im Vergleich zu den eigentlichen Schnapskrankheiten, treten aber auch selbst hier viel seltener auf, als letztere in den Schnapsgegenden.

Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, dass der Schnaps in sich den Grund zu immer steigendem Verbrauch trägt, während dies beim Bier durchaus nicht in derselben Weise der Fall ist. Wir können es also als einen großen Vorteil betrachten, wenn das einmal vorhandene Bedürfnis nach Alkohol mehr durch Bier als durch Schnaps befriedigt wird. Und so müssen wir es als ein Glück ansehen, dass überall da, wo das Bier leicht zugänglich und billig ist, es dem Schnaps den Raum streitig macht und siegreich aus dem Kampfe hervorgeht. Es ist deshalb ganz richtig, wenn behauptet wird, das Bier sei einer der wichtigsten Hebel des Kulturfortschritts, indem es den barbarischen und zivilisationsfeindlichen Schnaps verdränge und seine milde Wirkung an die Stelle des verderblicheren und gefährlicheren setze. Wo kein Wein wächst, der billig genug ist, um Volksgetränk zu werden, da haben wir alle Ursache, den Bierkonsum zu begünstigen, um den Schnaps zu bekämpfen.

Und die Tatsachen sprechen laut und deutlich genug, die Wahrheit dieser Sätze zu beweisen. Man sehe nur offen und ehrlich um sich und man wird zugestehen müssen, dass es in der Zeit von 1840 — 1870 in vielen Gegenden unseres Vaterlandes mit der Gesittung, dem Wohlstand und der Volksgesundheit besser geworden ist in dem Maße, als der Biergenuss gestiegen und der Branntweingenuss abgenommen hat. Als ich in den fünfziger Jahren nach Berlin kam, war die Zahl der Betrunkenen auf den Straßen noch eine recht erhebliche, nahm dann aber zusehends ab. Ähnlich war es in kleineren Städten und auf dem Lande, besonders auch im Osten unseres Vaterlandes, wo der Schnapskonsum zwar auch heute noch größer ist, als in den übrigen Provinzen, aber doch viel kleiner als er noch vor 30 und 40 Jahren war. Mit zunehmender Gesittung wendet sich die große Masse des Volks mehr und mehr vom Schnaps ab und dem Bier zu.

Diese wünschenswerte Richtung sollten wir nun auf alle Weise fordern, aber nicht stören. Zwar mit Reden, und kämen sie aus noch so gewichtigem Munde, wird hier wenig geleistet. Es trinkt niemand mehr Schnaps, weil ihm dieser als heilsam und nützlich angepriesen worden ist, sondern weil das Bedürfnis danach sich geltend macht. Anders aber ist es mit Maßregeln, welche die Befriedigung gefühlter Bedürfnisse erschweren. Wie die Verteuerung der notwendigsten Lebensbedürfnisse den Genuss von Schnaps vermehrt, haben wir schon gesehen. In ähnlicher Weise treibt eine Verschiebung der Preisdifferenz zwischen Bier und Branntwein viele Menschen dazu, nach dem letzteren zu greifen. Wir dürfen eben niemals vergessen, dass die meisten, um deren Wohl und Wehe es sich hier handelt, in ihrem Unterhalt an der Grenze einer bestimmten Leistungsfähigkeit stehen. Auf die Schicht derer, welche überhaupt nicht ihren Lebensunterhalt verdienen und der Armenpflege anheimfallen, folgt die sehr ehrenwerte und unserer Mithilfe würdigste Klasse derer, welche sich mühsam knapp durchs Leben schlagen; dann kommen solche, die schon etwas mehr verdienen und in der Wahl der Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse einen gewissen, wenn auch geringen Spielraum haben. Das Leben aller dieser ist der Einwirkung äußerer Einflüsse in viel höherem Grade ausgesetzt, als das der besser gestellten, wohlhabenderen Bevölkerung. Jede kleine Veränderung der Lebensmittelpreise schiebt sie hinauf oder hinunter; eine Missernte, eine neue Steuer bringt Tausende aus der einen Abteilung in die nächst tiefere. Und nun denke man sich, das Bier werde weniger zugänglich, sei es, dass es teurer wird, oder das weniger gebraut wird, weil der Betrieb einzelner Brauereien als nicht mehr lohnend eingestellt worden ist; oder man nehme an, das Bier, welches sie bekommen, sei weniger gehaltvoll, als es bisher gewesen, so dass es ihren Bedürfnissen nicht mehr vollkommen genügt - was wird die notwendige Folge davon sein? Ein sehr großer Teil der Bevölkerung wird dem Bier entfremdet und ergibt sich dem Schnapsgenuss.

Diese von mir aus den wissenschaftlich festgestellten Grundsätzen gezogenen Folgerungen, denen sich seitdem auch andere Schriftsteller angeschlossen haben, werden durch die Erfahrung vollkommen bestätigt. Während seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift die Brausteuer im norddeutschen Brausteuergebiet unverändert geblieben, die Branntweinbesteuerung dagegen eine bedeutende Erhöhung erfahren hat, trat in Bayern kurz vor jener Periode im Jahre 1880 eine Erhöhung der Brausteuer von 4 auf 6 Mk. für den Hektoliter Malz ein. Seitdem hat sich die Zahl der Brauereien vermindert, indem eine Anzahl kleinerer Betriebe eingingen. Gleichzeitig hat die Erzeugung von Bier nur sehr wenig, der Schnapskonsum dagegen erheblich zugenommen. Es wurden nämlich im Königreich Bayern produziert pro Kopf der Bevölkerung.

..........................Bier...........................Branntwein.

1879/80............241,6 1..........................2,4 1
1890/91............257,7 l...........................2,8 l

Die Zunahme beträgt beim Bier 6 2/3%, beim Branntwein dagegen 16 2/3%. Die vermehrte Bierproduktion ist aber nicht, oder doch nur zu einem Teil als eine Zunahme des Verbrauchs zu deuten, denn die Ausfuhr von Bier ist gerade in diesem Zeitraum erheblich gestiegen. Dagegen ist die Ausfuhr von Branntwein aus Bayern ganz unbedeutend, so dass die Zunahme der Produktion als gleichbedeutend mit einer Zunahme der Konsumtion angesehen werden darf. Über den wirklichen Bierverbrauch in Bayern, d. h. Produktion plus Einfuhr, minus Ausfuhr stehen mir augenblicklich nur die Zahlen für die Jahre 1889/90, 1890/91 und 1891/92 zur Verfügung. Danach betrug der Verbrauch:

1889/90 1890/91 1891/92
pro Kopf 222,1 221,2 219,4

Diese drei Jahre zeigen also eine stetige Abnahme, und dieser Abnahme in dem klassischen Lande des Biers steht eine allerdings nicht sehr große Zunahme des Branntweinverbrauchs gegenüber. Danach kann wohl kein Zweifel aufkommen, dass auch im norddeutschen Brausteuergebiet, falls dort, wie es beabsichtigt wird, eine Verdoppelung der Brausteuer eingeführt würde, eine Zunahme des Schnapsverbrauches eintreten würde. Das würde um so bedauerlicher sein, als in diesem Gebiete (wohl zum Teil infolge der namhaften Erhöhung der Branntweinsteuer i. J. 1887) der Branntweinkonsum wahrscheinlich abgenommen hat. Die Produktion sank von 1879/80 bis 1800/91 von 12,6 auf 7,9 Liter pro Kopf der Bevölkerung, d. h. um mehr als 3. Diese Abnahme ist freilich nicht gleichbedeutend mit einer Abnahme des Konsums, weil auch die Ausfuhr abgenommen hat. Eine genaue Berechnung ist unmöglich, weil die Zahlen über die Spiritusproduktion vor dem Jahre 1887 (wo die Besteuerung nach dem Maischraum erfolgte) ungenau sind.

Es ist selbstverständlich, dass auch andere Umstände in derselben Richtung wirken können. Wenn es wahr ist, dass die Trunksucht in der Zeit von 1870 — 1880 bei uns zugenommen hat, so trägt einen großen Teil der Schuld daran der Krieg. Der Krieg macht manchen zum Trinker, der es vorher nicht gewesen, geradeso wie er dazu beiträgt, den Anteil Roheit, welcher in jeder Menschennatur steckt, das Stück Bestie im Menschen, an die Oberfläche zu bringen. Dieser verderbliche Einfluss eines langen Krieges ist mindestens ebenso merkbar, als die Erweckung der edelsten Eigenschaften des Geistes, welche ihm zugeschrieben worden ist. Und dazu kann selbst die beste Disziplin nichts thun, es liegt eben in der Natur der Sache. Aber etwas kann die Disziplin thun, wenn sie in Friedenszeiten ihren gewaltigen Einfluss auf den Soldaten benutzt, um ihn daran zu gewöhnen, sieb bei anstrengenden Märschen u. dergl. nicht gleich an die Schnapsflasche zu wenden. Hier ist ein wichtiges Feld für die heilsame Einwirkung von Militärärzten und Offizieren, welche dabei zusammenwirken müssen. Bei dem großen Einfluss, den bei uns die Militärjahre auf einen großen Teil der Bevölkerung haben, ist diese Wirksamkeit von der weittragendsten Bedeutung.

Es fällt mir natürlich nicht ein, das Bier als das alleinseligmachende Mittel gegen den Schnaps anpreisen zu wollen. Selbstverständlich gibt es Lagen, wo auch das Bier den Zweck nicht erfüllen kann, von welchem hier die Rede ist. Wer im nassen Graben auf Vorposten liegt oder bei strömendem Regen marschieren oder hart arbeiten muss, hat gewiss keine Lust, sich an kaltem Bier zu erlaben. Und wer in Hitze und Staub auf der Landstraße marschiert oder im Sonnenbrand eine Wiese mäht, dem tut ein Trunk frischen Bieres wohl gut, könnte ihm aber vielleicht später eine kleine Unannehmlichkeit zuziehen. Das eigentlich hygienisch richtige ist, in den letzteren Lagen gar nichts zu trinken oder höchstens, wenn der Durst zu arg wird, ihn mit kleinen Mengen klaren Wassers oder noch besser, starken kalten Kaffees zu stillen. Daran sollten wir die Leute alle gewöhnen, und sie würden dabei gesunder und leistungsfähiger bleiben. In den Ruhepausen der Arbeit, beim Mittag- und Abendessen, mögen sie dann geringe Mengen eines guten kräftigen Bieres genießen, dann werden sie gesund und arbeitsfähig bleiben und, wenn sie nur eine ausreichende Kost haben, mehr leisten als die Schnapstrinker. Ein solches Bier braucht auch gar nicht sehr alkoholreich zu sein. In vielen Teilen unseres Landes werden leichte, aber doch kräftige, d. h. extraktreiche Biere gebraut, deren hoher Kohlensäuregehalt sie sehr erfrischend macht, deren Gehalt an Bitterstoffen und Aroma belebend wirkt, und die nicht mehr als 2 ½ - 3% Alkohol enthalten. Man denke nicht immer gleich an Bock und Salvator, wenn man vom Biergenuss der arbeitenden Klassen redet. Solche Biere kommen ja selten oder niemals in den Mund der meisten von ihnen. Man befördere die Verbreitung jener leichten und doch kräftigen Biere. Aber diese sind freilich weniger haltbar and vertragen, auch schon wegen der dadurch bedingten ganz unverhältnismäßigen Verteuerung, keinen weiten Transport. Es ist daher als ein großer Schaden anzusehen, wenn infolge von Steuermaßregeln die Zahl der kleineren, über das Land zerstreuten Brauereien abnimmt, wie dies tatsächlich in Bayern geschehen ist. Denn gerade diese liefern für den kleinen Mann und den Arbeiter auf dem Lande das nützliche Getränk.

Neben dem Bier sind es ferner die anderen Genussmittel, welche dem Übermaß des Branntweingenusses entgegenarbeiten - Kaffee, Thee und Kakao. Kaffee ist bei uns ein weitverbreitetes Volksgetränk, wenn auch nur in den billigeren Sorten und vielfach mit Surrogaten versetzt. Waschfrauen und andere Personen, welche häufig mehr und angestrengter arbeiten, als die Männer, die nach Feierabend mit der Pfeife im Hause oder in der Kneipe herumlungern, leben so zu sagen fast nur von Kaffee. Thee dagegen und Kakao gelten bei uns als Luxusgetränke der Wohlhabenden, aber mit Unrecht. Denn eine Tasse Thee nimmt es an Wirksamkeit als belebendes und stärkendes Genussmittel, namentlich in der Kälte, mit einem Glase Schnaps auf und kostet nicht mehr als dieses. Und dass auch Kakao sich zum Volksgetränk eignet, davon habe ich mich in England überzeugt, wo man in den meisten Städten für einen Penny eine große Tasse voll bekommt und wo die betreffenden Lokale von den arbeitenden Klassen sehr viel besucht werden. Man sollte diesen Getränken mehr Verbreitung in Volkskreisen verschaffen, wozu Gutsbesitzer, Arbeitsunternehmer, Bauherren und die Truppenkommandanten viel beitragen können, wenn sie dafür sorgen, dass ihren Leuten bei den Marketendereien guter Kaffee zu mäßigen Preisen geboten wird, und wenn sie womöglich das Feilhalten von Schnaps in diesen ganz unterdrücken. Wo die Gelegenheit dazu geboten wird, da machen auch bei uns die Arbeiter gern davon Gebrauch. In meiner Heimat Bromberg, wo früher recht erhebliche Mengen Schnaps getrunken wurden, kam irgend jemand etwa im Anfang der fünfziger Jahre auf den Gedanken, heißen Kaffee auf offenem Markt feilzubieten, und dieser fand bei Arbeitern und Marktbauern guten Absatz und tat dem Schnaps mit sichtbarem Erfolg Abbruch. Die Anlage von Volkskaffeehäusern, in denen Kaffee, Thee, Kakao und Chokolade mit Ausschluss aller geistigen Getränke zu billigen Preisen feilgeboten werden, halte ich deshalb für eine der segensreichsten hygienischen Maßregeln und wünsche, dass die schwachen Anfänge derselben bald einer lebhafteren Entwicklung Platz machen mögen. Die Einrichtungen der „Lockharts Cocoa rooms“ in England könnten für ähnliche Gründungen bei uns als Muster dienen. In meinem Hause ist es seit Jahren eingeführt, während der kalten Jahreszeit Briefträgern, Boten und dergleichen, eine Tasse heißen Thees anzubieten. Der Theekessel steht zu diesem Zweck den ganzen Tag bereit. Das kostet mich sehr wenig, wird von allen stets mit großem Dank angenommen, und wenn es auch nur in einzelnen Fällen bewirkt hat, dass ein Schnaps ungetrunken geblieben ist, dann glaube ich sicher damit ein gutes Werk getan zu haben. Ich habe als Militärarzt im französischen Feldzuge mich bemüht, den Truppenkommandanten die Notwendigkeit, den Leuten statt Branntwein Thee oder Kaffee zugänglich zu machen, darzulegen. Damals stieß ich auf Widerspruch; heute sind die erfahrendsten Militärhygieniker derselben Ansicht. Die früher in unserer Armee übliche Branntweinration ist deshalb auch jetzt abgeschafft und durch eine Kaffeeration ersetzt worden — ein Beweis, dass in den maßgebenden militärischen Kreisen der Branntwein nicht mehr als nützlich, geschweige denn als notwendig angesehen wird. Selbst bei großer Hitze wirkt Kaffee nachhaltiger anregend und zu ausdauernder Anstrengung befähigend als Branntwein. Das in ihm enthaltene Alkoloid wirkt erregend auf das Nervensystem, milder, aber nachhaltiger als Alkohol, und es erfolgt auf die Erregung keine Erschlaffung wie bei diesem. Von der Wirksamkeit des Kaffees bei großen Anstrengungen erzählt Werner von Siemens in seinen soeben erschienenen „Lebenserinnerungen“ ein schönes Beispiel.*) Kaffee bewirkt eine mäßige, lange anhaltende Schweißabsonderung, welche in der Hitze sehr zur Abkühlung des Körpers trägt. In strenger Kälte oder bei Nässe aber ist nichts so geeignet, die Lebensgeister wieder aufzufrischen als heißer Kaffee, oder Thee. Ebenso belebend wirken Kakao und die aus ihm bereitete Schokolade, welche außerdem auch noch erhebliche Mengen wirklicher Nahrungsstoffe enthalten.

*) In dem Augenblicke, wo ich dieses schreibe, trifft mich die Nachricht von dem Ableben des großen Mannes. In ihm hat nicht nur die Menschheit einen hervorragenden Gelehrten und genialen Techniker, sondern auch Deutschland einen seiner edelsten Bürger und alle diejenigen, welche ihn kannten, einen der liebenswürdigsten Menschen zu betrauern.