Sozialpolitische Perspektiven der Revolution

Ein vollständiger Sieg der russischen Revolution würde die denkbar günstigste sozialpsychologische Konjunktur für durchgreifende soziale Reformen schaffen. Der Sieg dieser politischen Revolution wäre ein großartiger Sieg der sozialen Evolution. Einer der Begründer der Theorie des Konservativismus und der "historischen“ Politik hat einmal ihr Geheimnis verraten: das Vorurteil. Seit 1789 hat sich auch ein guter Teil der französischen Revolution — und zwar in Frankreich selbst mehr als irgendwo anders — zum sozialpolitischen "Vorurteil“ von größter Festigkeit und Widerstandskraft verdichtet. Ich würde es das "bürgerliche“ Vorurteil nennen. Russland hat allerhand "Vorurteile“ und "Aberglauben“, es hat ihrer leider nur zu viele, es hat aber entschieden nicht dieses mit den größten Ruhmestiteln und Kulturverdiensten beladene, für die soziale Entwicklung sehr gefährliche, weil äußerst zähe Vorurteil. Es hat eben zu seinem Glück und Unglück kein „Bürgertum“. Daher gibt es auch kein bürgerliches Vorurteil und keinen bürgerlichen Pöbel in unserem Lande.

In bezug auf das bürgerliche Vorurteil werden für das zukünftige freie Russland weit mehr als für Amerika die berühmten Verse Goethes Geltung haben:


Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.


Herzen hat seinerzeit, auf Grund dieser Freiheit Russlands von bürgerlichen Traditionen — Russland für das gelobte Land der „sozialen Revolution“ und des Sozialismus angesehen und erklärt. Wir, die wir im Zeitalter des zur vollständigen Klarheit durchgerungenen evolutionistischen Gedankens leben, wissen sehr gut, daß die "soziale Revolution“ ein begriffliches Unding und daß der Sozialismus eine ideologische Synthese ist, der in der Welt der Wirklichkeit nur einzelne soziale „Reformen“ annähernd entsprechen können. Und doch — bei noch so entschiedener Ablehnung aller utopistischer und sozialmessianistischer Ideen — müssen wir es zugeben: Herzen hat insofern recht gehabt, als das "bürgerliche Vorurteil“ in Russland keine so große Macht über die Geister ausübt und in absehbarer Zeit ausüben wird, wie dies in Ländern älterer Kultur der Fall ist. In keinem einzigen Lande ist die gebildete Mittelklasse so weitherzig in sozialpolitischen Fragen, und dies ist jedenfalls nicht hoch genug zu schätzen im Hinblick darauf, daß die Ausgestaltung der sozialen Reformen überall das stärkste Hindernis in der Herrschaft des bürgerlichen Vorurteiles findet.

Die Geistesverfassung der gebildeten Mittelklassen in Russland ist gerade eine derartige, daß auf ihr ein "fabianisches“ Programm erfolgreich basiert werden kann. Die Theorie von der — man verzeihe mir eine vielleicht etwas wild klingende Neubildung — „alleinfortschrittschaffenden“ Kraft des Klassenkampfes muss stark revidiert werden. Der Klassenkampf schafft nicht nur Kräfte, die ihm gehorchen, er schafft auch seine eigenen Widerstände, und es hängt von der gegebenen historischen Konjunktur ab, was stärker ist, ob Wirkung oder Gegenwirkung, ob proletarischer Angriff oder bürgerliche Abwehr, getragen von der Stimmung, die Franzosen als „la peur bourgeoise“ bezeichnet haben. Übrigens auch rein „marxistische“ Erwägungen sprechen für unsere Hoffnungen auf weitgehende sozialpolitische Reformen im freien Russland. Das gegenwärtige Verhältnis der Klassen wird in Russland solche Reformen begünstigen. Die Agrarreform, die von weitsichtigen Vertretern des landbesitzenden Adels, von den Semstwodemokraten, als notwendig anerkannt worden ist, wird im freien demokratischen Russland von der Koalition der Bauernschaft nicht nur mit der Industriearbeiterschaft sondern auch mit dem Unternehmertum auch gegen den widerspenstigen Teil des Landadels durchgeführt werden. Grundlegende Reformen zugunsten der Arbeiterschaft werden von der Koalition der Arbeiterschaft mit den Bauern und dem Landadel auch gegen den noch so hartnäckigen Widerstand des Unternehmertums verwirklicht werden. Man sieht aber: in diesen "marxistischen“ Erwägungen geht die Idee des politischen Klassenkampfes in die der politischen Koalition über. Sozialistische Wunder werden nicht geschehen, aber eine ehrlich durchgeführte demokratische Verfassungsreform wird in Russland zweifellos eine Ära großartiger Sozialreformen inaugurieren. Die in Russland anbrechende Zeit muss einen "Beruf zur Gesetzgebung haben“. Denn — um nur das wichtigste und dringendste hervorzuheben — eine demokratische Agrarreform wird in Russland nicht nur eine Verschiebung der Grundeigentumsverhältnisse zugunsten des werktätigen Landvolkes, sondern auch die Schaffung eines zum guten Teil neuen Agrarrechtes sein müssen, eines Agrarrechtes, das weder traditioneller russischer "Gemeindebesitz“ noch westeuropäisches "Individualeigentum“ sein darf.

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In Westeuropa vergißt man leider zu leicht, daß noch niemals eine große politische Revolution so gewaltige Hindernisse zu überwinden hatte wie die russische Bewegung. Der Zweck meiner Ausführungen war, diese Hindernisse klarzulegen und die Schwierigkeit der russischen Revolution ins helle Licht zu rücken. Vielleicht wird man — nach Vergegenwärtigung aller dieser konterrevolutionären Momente — uns Russen gütigst verzeihen, wenn wir in unserer Revolution nicht mit der gewünschten Raschheit fortschreiten. Man bedenke nur, daß — so paradox dies auch klingen mag — die Unkultur der Autokratie an allen technischen Wohltaten des 20. Jahrhunderts viel größeren Anteil hat und dieselben freier und besser ausnützen kann als ihr Feind, die nach politischer Freiheit und sozialer Gerechtigkeit ringende Bildung. Diese paradox anmutende Formel umschließt unzählbare und unsagbare Leiden und Opfer der Massen und Individuen im heutigen Russland!




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Betrachtungen über die russische Revolution
Karl Marx (1818-1883), englischer Philosoph

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In Petersburg gab es Studentenrevolten

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Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), deutscher Dichter

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Kasan, russische Stadt

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Bauernhochzeit

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