Die "revolutionären“ Parteien und die Volksmassen - Die Bedeutung Gapons

Gegenüber dieser ideellen Einheit, die sich in geradezu einzig in der Geschichte dastehender Weise rasch und sicher eingestellt hat, ist es ein grober politischer Fehler seitens der sozialistischen Ideologenimmer und immer gegen die "liberale Bourgeoisie loszudonnern und dieselbe zu verdächtigen. Dies um so mehr, als das auf Unbildung basierende Misstrauen der Volksmassen gegen die "Gebildeten“ das sozialpsychische Fundament des Selbstherrschertums abgibt. Weder die Bauern noch die Arbeiter haben in Russland eine Ahnung von der wissenschaftlichen Theorie des Klassenkampfes. Das Misstrauen gegen die „Bourgeoisie“, welches im Namen dieser Theorie in den Volksmassen gesät wird, trägt nicht sowohl zur Bildung des politischen Klassenbewußtseins bei, als zur Stärkung der Vorurteile gegen die Gebildeten, welche doch die Avantgarde sind im Kampfe für die Freiheit. Und doch ist es den russischen Sozialisten sehr gut bekannt, daß die von ihnen verdächtigte "liberale Bourgeoisie“ mit einer, man kann sagen bewunderungswürdigen Geschlossenheit sich auf den Boden eines politischen Programms gestellt hat, welches seinerzeit kein Geringerer denn Ferdinand Lassalle als das politische Credo dem Proletariate gepredigt hatte.

Der Schaden, welcher durch solche Taktlosigkeiten angerichtet wird, ist allerdings aus folgendem Grunde geringer, als man es annehmen dürfte. Die sozialistischen Parteien im eigentlichen Russland haben hinter sich keine größeren Volksmassen. Sie sind mehr Gruppierungen und Parteiungen der extrem denkenden Intelligenz als der Arbeiterschaft und noch weniger der Bauernmasse.


Das organisatorische Vorproblem der russischen Revolution ist von ihnen auch nicht gelöst worden. Ihr "revolutionärer“ Doktrinarismus verhindert, daß sie eine wahrhaft revolutionäre, d. h. wirklich große Massen in Bewegung setzende und sie an politischen Tatsachen erziehende Taktik anwenden. Und es ist nicht ausgeschlossen, daß die Geschichte an diesen Parteien sozusagen vorbeigehen wird. Jedenfalls wirklich revolutionär und revolutionierend auf die Volksmassen hat im eigentlichen Russland nur Gapon gewirkt, begünstigt, wie ich glaube, durch ein Zusammentreffen gewisser Umstände (Konnivenz seitens der Regierung, geistliches Amt, völlige Freiheit von allen hemmenden Voraussetzungen und Vorurteilen der "revolutionären“ Intelligenz). Eine scheinbare Paradoxie: Gapon hat revolutionär gewirkt gerade dank seiner opportunistischen Taktik. Eine solche Taktik ist oft die zweckmäßigste, wenn man bereits fertige Massen im politischen Kampfe manövrieren läßt; sie ist aber die einzig zweckmäßige, wenn man die Massen erst politisch zu erziehen hat.

Die nächste Zukunft der russischen Arbeiterbewegung hängt wesentlich davon ab, ob Gapon selbst oder jemand sonst den Faden wieder aufnimmt, welcher durch die blutigen Ereignisse des 9./22. bis 11./24. Januar 1905 abgerissen worden ist. Es sind Anzeichen dafür vorhanden, daß dies geschehen wird.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Betrachtungen über die russische Revolution
Die Andreaskirche in Kiew

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Dorf an der Wolga

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