Die objektive Notwendigkeit der Revolution

Die russische Revolution besitzt — wir haben es schon gesagt — keinen solchen Träger, wie der Tiers-état in Frankreich es war. Man könnte sagen, die Schwäche der russischen Revolution läge gerade darin, daß sie zu wenig "bürgerlich“ ist. Aber man muss die Tatsachen hinnehmen, wie sie eben sind. Die russische Revolution wird nicht von einer Klasse getragen, welche ihrer faktisch erworbenen Machtstellung einen rechtlichen Ausdruck in einer neuen Ssaatsordnung verleihen will. Aber auch die französische Revolution erschöpfte sich nicht in diesem Momente. Es war in ihr nicht alles Klassenkampf.

Die Semstwos und ihre führenden Männer gehören sozial einem im Rahmen der bureaukratisch-absolutistischen Staatsordnung politisch und sonstig bevorzugten Stande an, welcher offiziell als erster Stand im Staate anerkannt ist: dem landbesitzenden Adel, und zwar seinen höheren Schichten. Diese Elemente führen einen nicht interessierten ideellen politischen Kampf. Dass sie für radikale politische und soziale Reformen auftreten, ist aber in meinen Augen ein schlagender Beweis für die objektive staatliche Notwendigkeit dieser Revolution. Auch die sonstige Intelligenz kämpft in diesem Kampfe in erster Linie für ideale Güter. Die Gewinnung dieser Güter bedeutet aber nicht einfach die Erfüllung idealistischer Wünsche der Intelligenz. Die letztere hat eine wichtige Rolle im Staate. Solange aber Russland kein Rechtsstaat ist, betrachten und behandeln einander der Staat und die gebildeten Klassen als Feinde. Dieser Zustand ist ein durch und durch verkehrter und unhaltbarer: Russland bedarf dringend der freudigen Mitarbeit der Intelligenz am Staate: das Elend und die Unkultur der Massen erfordern zu ihrer Bekämpfung die solidarische Einsetzung und Anspannung aller Kulturkräfte des Landes. Und das ist unmöglich im Polizeistaat. Deshalb ist er nicht lebensfähig.


Wenn ein Deutscher den in Russland zwischen dem Staate (Regierung) und der "Gesellschaft“ (gebildete Klassen) bestehenden Kriegszustand wenn auch annähernd sich vergegenwärtigen will, so denke er sich das deutsche gebildete Bürgertum einschließlich eines großen Teiles der Beamtenschaft ungefähr in der Position der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterschaft im Staate und gegenüber der Regierung. Und das ohne Wahlrecht und gesetzlich garantierte Menschenrechte!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Betrachtungen über die russische Revolution