Die äußerste Grenze des Widerstandes der Autokratie

Vorausgesetzt, daß die Regierung des Zaren und er selbst im Widerstand gegen radikale politische Umgestaltung und durchgreifende soziale Reformen verharren werden, taucht von selbst die Frage auf: wo liegt die äußerste Grenze dieses Widerstandes? Darauf kann nur eine Antwort gegeben werden: sobald der konstitutionell-demokratische Gedanke auch große Bauernmassen in seinen Bann gezogen hat, muss der Absolutismus kapitulieren. Der unmoderne „Geist“ des russischen Staates geht mit der unmodernen Geistesverfassung der russischen Bauernmassen unrettbar zugrunde. Hoffnungsvolle Anzeichen deuten darauf, daß im Denken und Fühlen der Bauernmassen ein grundstürzender Umschwung sich vollzieht (demokratische Beschlüsse vieler Bauerngemeinden, Konstituierung eines demokratischen Bauernbundes und manches andere).

Jedenfalls ist die angegebene Grenze die äußerste. Der Widerstand kann aber auch viel früher von selbst erlahmen oder gewaltsam gebrochen werden. Das Land befindet sich eben in einem Zustande der Desorganisation und der Anarchie, welche notwendig dort einreißt, wo die alte Staatsordnung und ihre Regierung moralisch gestürzt, aber noch nicht durch eine neue Staatsordnung und eine neue Regierung abgelöst ist. Die allseitige moralische Diskreditierung des Absolutismus erinnert an die prächtigen Worte Turgenjews (in einem Briefe an Herzen): "Wie ist aber der Konservativismus überhaupt möglich in Russland? Kann man denn an einen durch Fäulnis zerfressenen Zaun herantreten und ihn anreden: du bist kein Zaun, du bist eine steinerne Mauer und ich will im Anschluß an dich bauen!“ *) Diese Worte erklären, weshalb sich an den Absolutismus keine lebensfähigen politischen Kräfte „anbauen“: es ist dies jetzt tatsächlich ein lebensgefährliches Beginnen!


An dem Zustande der staatlichen und gesellschaftlichen Anarchie arbeiten unsichtbare Kräfte, die ganz unerwartete und unermeßliche Wirkungen hervorrufen können. Schon jetzt ist die politische Zersetzung in die Flotte und in die Armee eingedrungen. Von unten kann sich der bewaffneten Macht in unseren Zeiten wohl der Aufruhr, nicht aber die organisierte Revolution bemächtigen. Wer wird aber dafür einstehen, daß einmal, in extremis, ein Teil der Armee, unter Führung von Offizieren, sich nicht als organisierte Einheit der Revolution anschließt? Die Dinge sind jetzt vielleicht noch nicht so weit gediehen, aber jeder Tag kann im heutigen Russland Überraschungen bringen und neue Erscheinungen zeitigen. Wichtig ist, daß der geistige Abfall eines bedeutenden Teiles des Offizierkorps von der Autokratie schon eine vollzogene Tatsache ist; somit würden die angedeuteten Ereignisse unter Umständen nur eine logisch und psychologisch gleich notwendige Folge der schon existierenden Stimmungen und Spannungen darstellen.

*) Zitiert nach der russischen Ausgabe von Dragomanow, Genf 1892. Der Briefwechsel Turgenjews mit Herzen, ein historisch-politisches Dokument ersten Ranges und eine Perle der russischen Epistolarliteratur, ist von Schiemann in deutscher Übersetzung herausgegeben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Betrachtungen über die russische Revolution